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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Sie sich mit nur halbwegs zulänglicher Einbildungskraft vorstellen, was es heißt, wenn solch ein durch Rum, Benzedrin oder Parteifanatismus aufgeputschter Junge, das Gewehr in der Hand, aus seiner Deckung kriecht und über klumpige Schollen, Granattrichter, Fußminen, Drahthindernisse und schwarz-aufgeplatzte, zum Himmel stinkende Tote dem Feinde entgegenstolpert, von der atemlos tollen Gier erfüllt, ihm sein Bajonett in den Gedärmen umzudrehn, selbst dann, wenn dieser Feind die beiden Arme schreiend emporgeworfen hält, um sich zu ergeben? …«
    An diesem Punkte meines Versuchs, einer anekdotischen Kriegserzählung durch obige Allgemeinheiten auszuweichen, wurde ich durch die helle Stimme Bräutigams Io-Do unterbrochen. Er lag kerzengerade auf seiner Couch, hatte sich dicht in seinen schwarzen Schleier gewickelt, und sein Gesicht unterm Goldhelm zeigte eine Art von versonnen aufhorchender Ekstase, die mir unbegreiflich war.
    »Und wie ist das, Seigneur«, fragte er langsam, »wenn der eigene blanke Stahl in den Leib des Gegners dringt, und wenn der Blutquell hervorspritzt in rotem Bogen?«
    Ich war starr über diese Frage und den wollüstig poetischen Ton, mit welchem sie vorgebracht wurde. Ehe ich mich aber noch sammeln konnte, hörte ich, wie jemand leise aufklagte. Dem lieben Herrn Io-Solip nämlich war bei meiner Darstellung schon übel geworden, und die Frage seines Sohnes hatte ihm den Rest gegeben. Er sah ganz blaß aus, griff sich ans Herz und würgte ein wenig. Das Kuttenmännchen Io-Fra, der Mutarianer, der, ohne zu hören und zu sehen, alles hörte und sah, trat auf den Bräutigamsvater zu und hauchte ihn an, worauf sich dieser schnell von seinem Blutgrausen erholte.
    »Wir haben sehr nervöse Eltern, Seigneur«, tadelte Bräutigam Io-Do die gesetzte Generation. Herr Io-Solip aber entschuldigte sich bei mir tief beschämt:
    »Es soll nicht wieder vorkommen, Seigneur …«
    Io-Do hatte sich plötzlich erhoben und rief:
    »Und jetzt werden wir Seigneur zum Denkmal des Letzten Krieges führen.«
    Zu meiner Schande als Forscher und Reiseschriftsteller muß ich gestehen, daß mich in diesem Augenblick eine gewiß nicht ganz unbegründete Müdigkeit beinahe überwältigte, und ich mich am liebsten trotz Frack und Ordensstern auf die Erde hätte fallen lassen. Die Eröffnung, in diesem Augenblick zu einer Sehenswürdigkeit geführt zu werden, und sei sie auch so hochwichtig wie das »Denkmal das Letzten Krieges«, erfüllte mich geradezu mit Entsetzen. Wenn ich trotzdem schwieg und mich nicht auf meine Erschöpfung berief, so geschah dies keineswegs aus Forschungsdrang oder Reportermut, sondern aus blanker Feigheit und vielleicht sogar aus einer Art von Stolz. Durfte die Materialisation eines Menschenwesens, das vor rund hundert Jahrtausenden wirklich gelebt hatte, sich so schmählich-weichlich gehn lassen und um Schonung ihres Körpers bitten, der ja trotz seiner Vollständigkeit alles in allem nur eine Erscheinung war? Eine Erscheinung hatte zu zerfließen oder standzuhalten. Ein Drittes gab es nicht. Da ich nicht gelernt hatte, wie man zerfließt, so beschloß ich standzuhalten und mir keine leibliche Schwäche anmerken zu lassen. Ich konnte dennoch während der nächsten Minuten nicht verhindern, daß alle Worte und Bewegungen fern und schallend an mein Ohr schlugen, als läge ich auf dem Grund eines Stromes.
    Bräutigam Io-Do schien von dem Gedanken, seinen vorsintflutlichen Gast zum Denkmal des Letzten Krieges führen zu dürfen, recht sehr erregt zu sein. Er befahl dem blinden und taubstummen Kuttenmännlein, das ihm in diesen Tagen diente, mit ziemlich barscher Stimme: »Io-Fra! Irgendwo muß sich mein zweites Mentelobol versteckt haben. Suchen, bitte, frisch!«
    Der Mutarianer, vor dessen innerm Licht und Schall nichts verborgen bleiben konnte, glitt geräuschlos aus dem Raum. Mentelobol, das klang wie eine Zahnpasta des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich wurde aber sogleich belehrt, daß es sich um jenes mentale Reisegeduldspiel handelte, das ich schon kennengelernt hatte. In der nächsten Minute drückte mir Fiancé Io-Do bereits das Mentelobol in die Hand, das des Mutarianers inneres Licht flugs in seinem tückischen Verstecke aufgestöbert hatte. Ich war ziemlich verlegen. Würde es mir gelingen, die Kügelchen des Geduldspiels in die richtigen Löchlein zu lenken? Jetzt entspann sich ein kleiner Streit zwischen dem Bräutigam und seinem Vater:
    »Wie oft soll ich dir sagen, Sohn«, erlaubte Papa

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