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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Io-Solip sich einen leichten Tadel, »du mögest nicht im Zimmer reisen, nicht in geschlossenen Räumen …«
    »Ich reise wie ich will, Papa. Ich bin ein erwachsener Mensch, und übermorgen werde ich verheiratet sein …«
    »Mit Gottes Hilfe, so ist es, Sohn. Aber wer in seinem Zimmer reist, der schädigt das Haus. Und übermorgen ist es schon
dein
Haus. Du schädigst also dein eigenes Haus, das dir die Gesellschaft zuspricht, und in welchem du die nächsten hundertfünfzig Jahre leben sollst …«
    Der Hinweis auf den Besitz schien dem Sohne doch ein wenig einzuleuchten.
    »Fahren wir also hinauf«, sagte er mit rauhem Unwillen.
    Das Zimmer schwebte empor. Jeder Raum des Hauses konnte derart gesondert emporschweben. Wie, das weiß ich nicht. Das müssen ausgebildete Ingenieure aufklären. Ehe wir aber aus dem Zimmer auf die Plattform des Hauses hinaustraten, die dem Beobachtungsturm eines Kriegsschiffes glich, bemerkte ich unter der Waffensammlung an der rechten Längswand noch ein Stück, das mir bekannt, aber bisher entgangen war. Es war ein derber Trommelrevolver, ein richtiger wildwestlicher Schießprügel aus dem vorigen Jahrhundert, womit ich selbstverständlich das neunzehnte meine.
    Als ich mich verzweifelnd nach B. H. umgesehn und ihn flüsternd gebeten hatte, er möge mir doch schnell einsagen, auf welchen Wunsch ich meine Gedanken scharf einstellen sollte, während ich das letzte hellgrüne Kügelchen in das letzte Löchlein ›Scharf eingestellter Wunsch‹ ungeschickt und nervös zu praktizieren suchte, zwinkerte er mich beruhigend an und flüsterte zurück:
    »Denk an eine flache, ungeheure Waagschale.«
    Es war auch wirklich eine flache, ungeheure Waagschale, die sich von einem Nu zum andern – dieser Ausdruck ist ungenau, da die örtliche Veränderung beim Reisen ohne den geringsten zeitlichen Übergang erfolgte – die sich mithin im selben Augenblick unter unsre Füße geschoben hatte. Es war der größte Platz, der mir je vor Augen gekommen, und es war unbezweifelbar ein Stadtplatz, bis an den freien kreisrunden Horizont reichend, welcher waagschalenartig aufgeworfen, ringsum mit schattenhaft kulissenähnlichen Andeutungen von Hocharchitektur besteckt war, als da sind Türme, Türmchen, Giebelfronten, Zinnen, Maßwerk, all das recht niedrig, spielerisch, unecht, nur wie um der Silhouette willen da und unendlich ferngerückt. Der Sonnenball, purpurner als zuvor, da ich ihn wiederbegrüßt hatte, neigte sich im Westen zum Untergang. Das Firmament war hellgrün, genau von der Farbe der mentalen Kügelchen des Reisegeduldspiels. Tiefe Lapislazulischatten zogen in rhythmischen Wallungen darunter hin. Der Sonnenuntergang betonte noch den zweidimensionalen Charakter der Spielarchitektur entlang des Horizonts, die ja nur dazu da war, die offiziellen Baulichkeiten tief unter der Erde durch oberirdisch unterscheidende Ornamente und Symbole voneinander abzusondern.
    »Wo sind wir?« fragte ich B. H., während es mir war, als fröre nicht meine Haut, sondern mein Herz.
    »Wir sind auf dem Geodrom«, sagte B. H., »oder wenn du willst, auf der zentralen Plaza.«
    »O ja, natürlich, Geodrom«, erwiderte ich, als würde ich diese Bezeichnung längst schon kennen. Es war mir bereits nicht mehr angenehm, den blutigen Neuling immer wieder hervorkehren zu müssen.
    Ich blickte auf meine alten, brüchigen Lackschuhe hinab, die nicht schöner geworden waren, seitdem man sie mir das letztemal über die Füße gestülpt hatte. Das neuangeschaffte Paar, das ich irgendwo noch besitzen mußte, hatte man ebenso vernünftiger- wie schnöderweise in die »Erbmasse« getan, anstatt es mir mitzugeben. Ehe ich mich aber noch über diese Sparsamkeit ärgern konnte, gewahrte ich zu meiner Überraschung, daß ich an den Sohlen ein Paar ganz dünne und schmale Schlittschuhe trug. Ich konnte mich nicht erinnern, ob und wann man sie mir angeschnallt hatte. Ohne diese Schlittschuhe aber, wie sie hier alle Welt benützte, wäre eine Fortbewegung auf dem ungeheuren Geodrom – der zentralen Plaza Californias, des Kontinents oder vielleicht des gesamten Globus, wie sollt’ ich’s wissen – äußerst mühsam, langwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen. Der Boden dieser zentralen Plaza nämlich bestand aus einer eis-ähnlich spiegelglatten Masse, die das ganze gewaltige Rund der Waagschale bedeckte, deren Durchmesser meiner Schätzung nach zwanzig Meilen oder mehr betrug. Eine Fußwanderung querüber oder an der

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