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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ergangen war, aus denen sie während des römischen Altertums entstanden sind. Sie vermischten sich zu einer größeren Einheit, der ältesten Kontinentalnation der Alten Welt. Die nationalistischen Weltkriege vorher waren nichts anderes als letzte Zuckungen eines überalterten provinziellen Tribalwesens. Die geeinigte Kontinentalnation Europas aber versank in ein langes Zeitalter der Sterilität, während die Kultursonne über ganz neuen Völkern des Ostens und Westens aufging, von denen wir damals noch kaum gehört hatten … Welche Grundnation aber, glaubst du, ist es gewesen, die als erste beim psychochirurgischen Zentralamt den Antrag auf allgemeine Extraktion des Nationalgefühls gestellt hat?«
    »Die Franzosen vielleicht«, zögerte ich, »nachdem sie mit Hilfe Jeanne d’Arcs und der Engländer dieses Nationalgefühl eingeführt haben.«
    »Im Gegenteil«, lachte er, »die Deutschen. Die endgültige Vernichtung der Seuche des Nationalismus ist und bleibt ein Verdienst der Deutschen, nachdem es ihnen bis dahin sieben- bis vierzehnmal nicht gelungen war, durch Macht beliebt zu werden.«
    »Das hätte ich erraten müssen, B. H.«, schämte ich mich. »Natürlich können es nur die Deutschen gewesen sein, die zuletzt gegen den Protest protestierten …«
    »Die einfachsten Antworten sind meist die schwierigsten, F. W.«, tröstete er mich.
    »Und die Juden?« fragte ich. »Ich nehme an, daß dies die Frage Nummer sechs ist.«
    »Die Juden«, gab er zur Antwort, »bemühten sich seinerzeit mit größter Gewalt, auch nur ein kleines Volk unter kleinen Völkern zu sein; doch durften sie sich gemäß dem göttlichen Heilsplan trotzdem nicht auflösen.«
    »Die Juden bestehen also weiter«, sagte ich, »genau wie die katholische Kirche?«
    Er sah mich aufmerksam an, ehe er knapp erwiderte:
    »Lassen wir das. Du wirst vermutlich Gelegenheit haben, diese Phänomene selbst zu erforschen, und sie werden dir unglaubwürdig genug erscheinen.«
    B. H. hatte sich wieder auf einen der Bordstühle ausgestreckt und die Hände unterm Kopf verschränkt. Ich wollte verhindern, daß er einschlief. Nur wenn ich ihn wachhielt, konnte ich mich selbst wachhalten:
    »Ich weiß, es ist äußerst egoistisch von mir, B. H., aber erlaubst du mir, das Interview fortzusetzen? Ich hätte noch zwei oder drei Fragen.«
    »Jetzt kommt Frage sieben«, murmelte er und öffnete gutmütig seine dunklen Augen.
    »Hol über, Fährmann, hol über … Hol über nach Rußland …«
    Des Freundes Stirn legte sich in scharfe Falten der Sammlung:
    »Als alter Mann«, begann er, »durchquerte ich Rußland mehrere Male von Osten nach Westen und von Westen nach Osten. Nirgends habe ich berauschenderen religiösen Pomp angetroffen als in Moskau gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war auf dem Roten Platz. Kein Irrtum, er hieß noch immer der Rote Platz, und die alte Partei, eisgrau und stock-konservativ wie nur die Tories in London, hatte die Staatsmacht inne. Die Glocken aber donnerten von den Kathedralen. Der orthodoxe Klerus erschien in seiner ganzen byzantinischen Pracht. Inmitten dieses Klerus folgte der uralte Metropolit dem heiligen Ikon der schwarzen Gottesmutter. (Man konnte freilich bei russischen Massenaufzügen dieser Zeit niemals wissen, ob es sich nicht um historische Filmaufnahmen handelte, denn für diese Form der nationalen Glorifikation liebte der Staat ungezählte Millionen zu spendieren.) Dem marxistischen Klerus war nichts andres übriggeblieben als sich ebenfalls in rote Dalmatikas zu kleiden und die ballonmützenartigen Mitren aufzusetzen, auf welchen in altertümlichen Lettern die Worte prangten: ›Die klassenlose Wohlfahrt der meisten Mikroorganismen ist das Ziel des Kosmos.‹ Doch obwohl die Gegen-Prozession aus dem Kreml sehr glanzvoll war, und die jungen marxistischen Ministranten Inzensgefäße mit Desinfektionsrauch (Formalin) schwangen und Hymnen von gereimten Statistiken ertönten, konnte sie sich doch nicht an Pracht mit der andern Prozession vergleichen, die von der unscheinbaren Holzkirche in Sokolniki, welche den Stürmen der Gottlosenzeit standgehalten, ihren Ausgang genommen hatte. Man feierte damals die sogenannten ›oströmischen Kompakten‹, einen Ausgleich des Schismas, eine praktisch-dogmatische Annäherung der griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Kirche; ein schlauer Streich, den der damalige Metropolit dem Großbojaren in Moskau spielte, wie der offizielle Titel des sozialistischen

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