Stern der Ungeborenen
Falten bildeten sich um seinen Mund. »Dir, mein Kind, fällt das Erinnern leicht, denn du verwaltest nur ein einziges Inventar. Denk aber einmal drüber nach, wie anders das bei mir ist. Ich bin nicht immer so ein Snob der Aktualität, wie du glaubst, wenn ich nicht gleich weiß, worum es sich bei unsern gemeinsamen Erinnerungen handelt.«
»Hol über, Fährmann, hol über …«
»Ich will’s versuchen, F. W., so gut es geht … Wohin soll ich dich rudern? … Womit willst du dein Interview beginnen?«
»Wart einmal … Wann war es, daß ich damals einschlief? Es muß im Frühling 1943 gewesen sein. Und du? Du hast vermutlich noch lange Zeit nach mir gelebt, nicht wahr?«
»Halt, lieber Freund, halt!« unterbrach er mich. »Du scheinst noch immer nicht die richtige Vorstellung davon zu haben, welche Mühe es mich kostet, meinen Kontinuitätssinn mit voller Schärfe auf eine meiner abgelebten Existenzen einzustellen. Es ist nur ein hinkender Vergleich, aber jede Reinkarnation, will sagen jede abgeschlossene Existenz von A bis Z ist wie ein verstaubter Lexikonband in einer finstern Bibliothek. Darüber hilft selbst eine beständige Erinnerungsgymnastik nicht hinweg. Aus vielen solchen verstaubten und vergilbten Bänden besteht der empirische Teil einer oft wiedergeborenen Seele. Wohlgemerkt, der empirische und nicht der essentielle Teil. Die Aufgabe meines lückenhaften Gesamtbewußtseins ist es, den richtigen Band in der Finsternis herauszugreifen, ihn abzustauben, ihn aufzuschlagen und, ohne von dem geistigen Verwesungsgeruch unausdenklich alter Bücher betäubt zu werden, den richtigen Artikel zu finden. Dazu ist große Sammlung vonnöten. Bitte vergiß jetzt nicht, daß ich nun den ersten und vergilbtesten Band vom Regal herunterholen muß. Vergiß auch nicht, daß die ›Transparenz der Sonne‹ wie eine Grenzscheide durch das Gedächtnis der Menschheit läuft. Du und deine Zeit liegen noch weit jenseits der Transparenz. Ich bitte dich also, deine Fragen langsam zu stellen.«
»Ich habe dich gefragt«, wiederholte ich staccato, wie man zu einem Schwerhörigen spricht, »wieviele Jahre du nach 1943 post Christum natum noch gelebt hast.«
Er schloß die Augen und senkte den Kopf. Ich sah, wie er blaß wurde von der Mühe, ein ganz altes Leben wiederaufzuschlagen.
Meine Gegenwart freilich mochte ihm dabei ein wenig behilflich sein:
»Ich habe damals, wenn ich nicht irre, ein ziemlich hohes Alter erreicht«, begann er endlich, etwas zögernd. »In unserer Generation war’s eine ganz hübsche Leistung, mein’ ich, zumal wenn man bedenkt, daß ich in zwei Armeen gedient habe, in der alten kaiserlich und königlich habsburgischen und in der königlich großbritannischen …«
»Wie das? Wie kannst du in der englischen Armee gedient haben?«
»Ich hab’ es halt«, sagte er und fügte aufatmend hinzu: »Das genaue Datum weiß ich natürlich nicht mehr, aber es ist nicht unmöglich, daß ich noch zu Beginn der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt habe.«
»Fast dreißig Jahre länger als ich, B. H.«, nickte ich anerkennend, »und in einer historisch außerordentlich interessanten Zeit. Das legt dir mir gegenüber schon einige Verpflichtungen auf. Also nimm dich zusammen bitte. – Frage zwei: Bist du bereit?«
»Frage zwei«, sprach er mir nach. Und dann: »Gut. Ich bin bereit. Nur bitte langsam und geduldig!«
»Hast du noch den Dritten Weltkrieg erlebt?« Ich zog die Worte lang.
»Ich glaube«, erwiderte er, immer blasser von Konzentration, »ich glaube, ich habe in jenen Tagen keinen Frieden mehr erlebt. Der menschliche Aberglaube damals machte das Glück der Völker, du erinnerst dich sicher besser als ich, von zwei ökonomischen Systemen abhängig, die beide falsch waren. Das eine führte zu höllischer Verstaatlichung und Sklaverei des Individuums. Das andre zu Anarchie und Auflösung der Gesellschaft. Es war das geistloseste Entweder-Oder der Weltgeschichte, die sich ja immer kraft solcher Entweder-Oder fortentwickelt, wie zum Beispiel das berühmte Iota zwischen Homousios und Homojousios zeigt, zwischen der Gottgleichheit und der Gottähnlichkeit Christi, um derentwillen einige Jahrhunderte vorher so viel Blut vergossen wurde … Wie hätte es in meinen alten Tagen Frieden geben können, solange zwei Systeme nebeneinander bestanden, welche sich sowohl haßten als auch beneideten. Nein, nein, je mehr ich mich sammle, um so deutlicher heulen die Bomben in meinem Ohr.«
Nun
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