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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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fühlen, nicht ganz verwischen. Sie dienten allen Herren und allen Ideen der Welt, denn das echte Wichtelmännchentum hielt alle Ideen und alle Herren für auswechselbar, da es ja niemals eine eigene Idee gehabt hatte außer dem Protest. Selbst jener Geheimbund, den sie die ›Gräberboten‹ nannten oder die ›weißen Vampyre mit den roten Lippen‹, der Möchtegern-Schrecken Europas vor 1950 , war ein blankes Plagiat an der italienischen Maffia von 1848 und an den amerikanischen Schauerfilmen des finstersten Altertums, obwohl die Wichtelmännchen auch hier wie überall die Originalität durch Übertriebenheit zu ersetzen suchten: denn ›Gräberbote‹ durfte nur werden, wer seinen linken Arm abhackte und durch eine Prothese ersetzte, in die eine elektrische Batterie eingebaut war, die tödliche Schläge auszuteilen vermochte. Die Wichtelmännchen, gleichgültig wo und wem sie dienten, waren die ersten, die das unterirdische Leben erfanden, dessen Vollendung du in der heutigen mentalen Kultur vor Augen hast. Sie unterwühlten kraft ihrer frenetischen Energie und inhaltslosen Opferbereitschaft die Haupt- und Großstädte aller Nationen mit ihren wissenschaftlich ausgeklügelten Labyrinthen. Und das taten sie, noch während die siegreichen Mächte ihr Land entwaffnet und besetzt hielten, und sie, die Wichtelmännchen, oberhalb der Erde von den Heinzelmännchen nicht zu unterscheiden waren. Im übrigen war der Charakter der Heinzelmännchen so schwach, daß sie der Neigung, Wichtelmännchen zu werden, oft nicht widerstehen konnten. Die Wichtelmännchen sind auch die Erfinder der unterirdischen Denkmäler gewesen, deren eines du noch heute sehen konntest. Hunderte dieser Denkmäler errichteten sie in ihren geheimnisvollen Labyrinthen einem Abgott mit Namen Heiltier, einem Scheuel, das nicht einmal ein echtes deutsches Wichtelmännchen, sondern ein schmutziges Grenz- und Mischwesen gewesen sein soll …«
    »Der Name ist nicht richtig, B. H.«, war ich gezwungen, einzuwerfen.
    »Und wie ist der richtige Name, F. W.?«
    »Schade, soeben hab ich ihn auf der Zunge gehabt …«
    »Mag sein«, überlegte B. H., »er hieß Hiltier. Sie sehnten sich nach der ›Volksgemeinschaft‹ zurück, einer automatischen Lebensform, die er bei ihnen eingeführt hatte, wo jedermann Denunziant und Denunzierter, Folterknecht und Gefolterter, Henker und Hingerichteter gleichzeitig sein durfte. Sie errichteten diesem Hiltier nicht nur Denkmäler, sondern schrieben noch Jahrzehnte nach seinem Verschwinden an die Wände ihrer Bedürfnisanstalten ›Heil Hiltier‹. Das war ein magischer Wiederholungsakt. Denn durch denselben Brauch, die ammoniakwürzigen Pissoirwände mit ›Heil Hiltier‹ zu beschmieren, hatten die Wichtelmännchen vorher die Macht über die Heinzelmännchen und beinahe die Weltherrschaft errungen …«
    »Und gelang’s den Wichtelmännchen beim dritten Mal, B. H.? … Das wäre Frage vier …«
    »Davon hab ich keine persönliche Erfahrung«, kam die rasche Antwort. »Ob sie’s erreicht haben oder nicht, ist auch ganz und gar unwichtig, denn als ich das nächste Mal ins Planetenleben trat, da gab es keine Deutschen mehr, sondern nur noch die deutsche Sprache, die da und dort, besonders unter Farbigen, gesprochen wurde, aber Mödlinger Sprache hieß. Mödling soll ein Vorort von Wien gewesen sein.«
    »Das sind allerdings Aspekte«, meinte ich, »von denen ich mir nichts hab’ träumen lassen. Und was geschah mit all den kleinen Völkern, B. H. ….? Das ist die fünfte Frage, wenn es dich nicht allzusehr hernimmt.«
    »Die kleinen Völker«, entgegnete er, ohne nachzudenken, »störten noch einige Zeit, dann lösten sie sich in den sogenannten Grundnationen auf. Leider, denn manche unter den kleinen Völkern waren sympathischer und nützlicher als die Grundnationen.«
    »Und das Schicksal der Grundnationen?« Ich schmuggelte das als Unterfrage ins Interview.
    »Die europäischen Grundnationen«, erwiderte er, »verschmolzen miteinander und verschwanden. Nicht nur die Deutschen, sondern ebenso die Franzosen, die Slawen, und zuletzt sogar die Engländer. Seltsamerweise bestand das großbritannische Weltreich noch, als es keine wirklichen Engländer mehr gab. Am längsten erhielt sich eine Enklave des italienischen Volkes, und zwar dadurch, daß Rom als Thronsitz der katholischen Kirche sich bisher als unvergänglich erwies. Den Grundnationen Europas aber erging es so, wie es den alten Wanderstämmen ihrer Väter

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