Stern der Ungeborenen
Krankheiten«, fuhr er fort, »zum Beispiel die ›Tachyphobia‹ und die ›Plutophobia‹, wie die Medizin sie altmodisch titulierte. Die Amerikaner konnten mit einem Mal keine Geschwindigkeit mehr vertragen. Bei jeder Fortbewegung, die rascher war als fünfundzwanzig Meilen in der Stunde, trat epidemisch eine nicht ungefährliche Gehirnanämie auf. Der Personenflugverkehr mußte aufgegeben werden, und selbst das geliebte Auto verschwand nach und nach vom phantastischen Straßennetz des Kontinents. Die heutige mentale Aversion gegen Räder-Fahrzeuge stammt möglicherweise von jener Tachyphobie ab … Man darf, um die Tachyphobie recht zu verstehen, nicht vergessen, daß all jene rasenden Fortbewegungsmittel nicht erfunden worden sind, damit der Mensch geschwind, sondern damit er langsam sein dürfe.«
»Und die ›Plutophobie‹?« fragte ich.
»Die ›Plutophobie‹ war eine Hautkrankheit, eine Art allergischer Psoriasis, die der Anblick von Wechseln, Aktien, Hypotheken, besonders aber von langen und verzwickten Geschäftskontrakten hervorrief. Es war eine absonderliche Mischung von Ekel, Überdruß und Langweile, welche zu dieser Plutophobie und damit zur Abschaffung aller kommerziellen Tätigkeit führte. Die Menschen schämten sich so sehr der Hochwertung der Dinge nach der Größe ihres Absatzes, daß alljährlich eine ›Konkurrenz der Ladenhüter (worstseller)‹ gefeiert wurde: Der Kongreß in Washington sah sich gezwungen, einen neuen Zusatz zur Verfassung zu beschließen, kraft dessen das ökonomische Naturgesetz von Angebot und Nachfrage für null und nichtig erklärt wurde … In Amerika freilich, wo jeder Quadratmeter der Prärien und Wüsten von Reichtum überströmte, hatte inzwischen der neokommunistische Grundsatz gesiegt, der in offizieller Formulierung lautete: Jedermann sein eigener stinkiger Millionär …«
»Und was taten die frischen, naiven, erfolgsfrohen, tatenlustigen, statistikgierigen, wetteifernden Amerikaner mit all ihrer Zeit?«
»Der große wissenschaftliche Einfall des Djebel«, erwiderte B. H. dunkel, »ein echt amerikanischer Einfall, begann seine Schatten vorauszuwerfen. Die ersten primitiven Grundsätze der Chronosophie, des kosmischen Turnens und des Sternwanderns reichen bis tief hinab in die plutophobische Epoche. Auch jene ersten Versuche, die schließlich nach ungezählten Jahrtausenden zum Siege über das Alter und den frühen Tod geführt haben, regten sich sehr früh. Es soll, so heißt es, schon in den Anfängen der Menschheit rüstige Gruppen von achtzigjährigen Amerikanerinnen gegeben haben, die gleichaltrigen Amerikanern fröhlich zuriefen: »Wollt Ihr Burschen euch nicht zu uns Mädels setzen?«
In diesem Grundgefühl der angloamerikanischen Rasse, niemals erwachsen zu sein, lag schon die Vorahnung einer späteren Erfüllung. Und nicht weniger wichtig als all dies: auch die Idee des reinen inhaltslosen Spiels als Lebenszweck regte sich zum ersten Mal, nachdem die Hochflut des neuen Mystizismus zurückgetreten war. Über dieses inhaltslose Spiel hast du ja heute bereits einiges von unserm Hausherrn und von unserm Wortführer gehört. Ein Exempel dafür aus ältester Zeit: Die plutophoben Amerikaner, die nicht mehr kauften und verkauften, hielten an einem einzigen kommerziellen Zweig zähe fest: es war das Reklame- und Inseratengeschäft. Der Witz aber lag darin, daß sie mit den gewohnten marktschreierischen Superlativen nur solche Menschen und Dinge anpreisen durften, die in Wirklichkeit nicht vorhanden waren …«
Ich lag still und hörte dem Wiedergeborenen aufmerksam zu, um ja kein einziges Detail zu verlieren, denn einen ähnlichen Kurs in der Weltgeschichte, wie ich ihn hier nehmen durfte, hatte noch niemand durchzumachen das Glück gehabt. Ich, der ich mich mit Leib und Seele im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau befand, durfte dazu noch mit meinen Ohren hören, was sich in den Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden nach meinem Tode begeben hatte. Ein neuer Anhauch ozonreicher Bergluft kühlte mir die Stirn. Vielleicht war der Tag nicht mehr fern. Meine Müdigkeit hatte nicht an Dichte, aber an Schwere abgenommen. Jetzt bewegt sich die Grizzlybärin der Nacht im falschen Fenster, sie hebt eine Tatze, so war es mir. Zugleich aber hatte ich den Faden verloren und vieles, vieles nicht mehr gehört, was B. H. von den Jahrhunderten und Jahrtausenden berichtete, deren Zeuge er gewesen. Ich nahm das Wort, hatte aber das Gefühl, meine Ohren seien
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