Sternenfinsternis (German Edition)
vollkommen fremd. Wer war er? Er kannte ihn nicht mehr wieder – das war nicht der Lucas Scott, der er nun war.
Alles um ihn herum konnte nicht real sein. Dennoch fühlte sich die Holzbank wie eine Holzbank an und das Licht fiel von der gegenüberliegenden Front mit seinen großen hohen Rundbogenfenstern genau so in den Flur, wie er es unzählige Male zuvor beobachtet hatte – und doch fühlte es sich vollkommen anders an.
Die große hölzerne Tür zum Rektorat öffnete sich und Miss Mildrich, die Sekretärin, warf einen Blick hinaus auf den Korridor, so wie sie es auch an jenem Tag getan hatte.
Argwöhnisch, ohne ein Wort zu sagen, blickte sie den Sechszehnjährigen abermals an. Zuerst sah er nur ihre finstere Mine, die der bislang gewohnten mürrischen gewichen war – wozu sie schließlich allen Grund hatte, wenn er bedachte, wie abscheulich diese Fotomontage war, die er von ihr und Professor Schuhmann angefertigt hatte.
Auf einmal war er dazu in der Lage, etwas in ihrem Gesicht zu erkennen, das ihm ›beim letzten Mal‹ ganz und gar verborgen geblieben war. Es war tiefe Enttäuschung und unsagbare Demütigung, welche sie quälten. Lucas erhob sich wie einst, doch statt der humpelnden alten Dame einfach wieder zu folgen, sprach er sie an.
»Miss Mildrich!«
Überrascht drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Bevor wir reingehen wollte ich ihnen noch sagen, dass es mir leidtut. Ich weiß jetzt, dass meine Streiche allesamt unreif und sinnlos waren. Ich möchte, dass sie wissen, wenn ich nur die Möglichkeit dazu hätte, alles ungeschehen zu machen, würde ich das ohne zu zögern tun. Sowohl die Fotomontage als auch den Seifenstreich, den ich ihnen spielte. Im Leben hätte ich niemals mit derart schwerwiegenden Konsequenzen gerechnet. Und es geleugnet, nicht den Mut aufgebracht zu haben, das alles vor ihnen zuzugeben, dafür schäme ich mich wirklich sehr. Von der Schule suspendiert zu werden, habe ich verdient. Meine Entschuldigung soll nicht den Eindruck aufkommen lassen, dass ich damit einen Verweis verhindern möchte. Es ist mir nur wichtig, dass sie wissen, wie unsagbar leid mir das alles tut.«
Lucas konnte die Betroffenheit im Gesicht der alten Dame sehen und er hatte den Eindruck, Dankbarkeit in ihren Augen erkennen zu können – Dankbarkeit dafür, dass er sie endlich nach all der Zeit zu respektieren schien. Dann geschah etwas für Lucas vollkommen Unerwartetes, sie schenkte ihm ein Lächeln und Lucas erwiderte es wie selbstverständlich. Wohlbehagen durchflutete seinen Körper. Ein Gefühl, das er seither so nicht kannte. Einen Menschen, dem er seither keine große positive Beachtung schenkte, glücklich gemacht zu haben, erfüllte ihn mit einer ungeahnten Freude.
Auf einmal wandelte sich das Bild und alles um ihn herum wurde in ein strahlendes Weiß getaucht. Trotz der Helligkeit waren seine Augen imstande zu sehen, auch wenn es nichts gab, das er hätte ansehen können. Ferne und Nähe hatten keine Relevanz mehr, alles war gleich. Er glaubte sich im dichtesten Meer aus Nebel, doch fehlte dem gänzlich der Dunst.
Bevor er sich selbst die Frage stellen konnte, wo er war, entdeckte er in der Ferne, die es jedoch nicht gab, wie jemand oder etwas auf ihn zukam. Näher, immer näher – schleichend, während Lucas angespannt, jedoch geduldig verharrte. Wo hätte er auch hingehen sollen.
So weiß wie alles andere an diesem Ort war das lange fließende Kleid der Frau. Der dünne Stoff, der ihre engelsgleiche Kleidung zierte, wurde vom Spiel des Windes bewegt. Wenngleich Lucas noch nicht einmal einen Lufthauch verspürte.
Lächelnd trat sie ihm entgegen. Ihr Gesicht kannte er, doch war er sprachlos aufgrund ihrer Schönheit, nicht dazu fähig auch nur einen Gedanken zu fassen.
»Sei gegrüßt, Jorim«, sprach sie Lucas an, auf dass die Wortkargheit der Bestürzung wich.
»Ich weiß, wer sie sind, Iash – doch mein Name ist nicht Jorim. Ich heiße Lucas Scott«, versuchte er sie aufzuklären.
Doch die einstige Herrin der Elan lächelte nur, streckte ihre Hand nach ihm aus und strich ihm liebevoll über sein Gesicht.
»Du hattest viele Namen, mein Sohn. Dich an den Letzten zu erinnern, ist sicherlich das Leichteste. Doch der erste Name, den du getragen hast, war Jorim. Du warst noch zu jung, als du aus dem Leben gerissen wurdest, als dass du dich jemals aus eigener Kraft heraus an diesen erinnern könntest. Doch nun endlich nach so langer Zeit und zahllosen
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