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Sternenschatten

Sternenschatten

Titel: Sternenschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Natur. Genau daraus entsteht Freiheit. Aber eine Welt, in der die Familie als solche ausgelöscht worden ist, wird monolithisch. In ihr gibt es keine Konflikte mehr. Da gibt es nur einen einzigen Moralkodex. Da … da gibt es keine Freiheit als solche, nehme ich an …«
    »Siehst du, und ich habe dich so erzogen, wie ich es für richtig hielt«, unterbrach mich mein Großvater. »Und was habe ich nun davon?«
    »Ich habe dich nicht darum gebeten, mich zu erziehen«, hielt ich dagegen.
    Mein Großvater schwieg eine Weile, bevor er schließlich reagierte. »Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, Pit.«
    Der kindliche Name verfing bei mir jedoch nicht.
    »Du hast jetzt keine Gürtellinie mehr. Gut, was auch immer deine Ziele gewesen sein mögen, Großpapa, jedenfalls hast du mich so erzogen, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Du hast mich zur Freiheit erzogen. Oder war das etwa nicht dein erklärtes Ziel? Genau deshalb musst du dir jetzt anhören, dass ich mir sicher bin, dass die Welt der Geometer der Erde nichts Gutes bringt.«
    »Petja, hast du da, bei den Geometern, Bettler gesehen?«
    Ich schwieg. Was hätte ich antworten sollen? Zum Glück wollte mein Großvater den Effekt noch steigern: »Oder Banditen? Verbrecher?«
    »Ja. Ich habe in einem Konzentrationslager gesessen.«
    »Wenn ich deiner Beschreibung trauen darf, dann ist das nicht der schlimmste Ort, Petja! Millionen von Menschen leben bei uns unter weitaus schlechteren Bedingungen. Kennst du die Flüchtlingslager bei Rostow? Oder die Arbeitssiedlungen für die Jugend in Sibirien?« Mein Großvater hatte die Stimme erhoben und presste aus der Kehle des Reptiloiden alles an Lautstärke heraus, was nur möglich war. »Als du dir die Schattenseiten dieses Planeten angesehen hast – ist dir dein eigener da vielleicht wie ein Paradies vorgekommen? Wach auf, Petja! Die Erde ist weiß Gott nicht der Kurort, für den du sie so gerne hältst.«
    Die endlose eisige Tundra fiel mir wieder ein. Die Kette von Wachtürmen, in denen die Wendigen Freunde saßen. Der Historiker Agard Tarai, der die Wahrheit nur zu gut kannte – und sich trotzdem nicht zum Protest aufraffen konnte. Auch das Dampfbad fiel mir ein. Vielleicht wegen des Kontrasts: der glühende Wind und die vielen Menschen, die Angst hatten, einander zu berühren. Die Kinder aus dem Internat Weißes Meer, nette aufmüpfige Jungen, die man voller Sorgfalt und Liebe in nette gehorsame Roboter verwandeln würde.
    »Die Erde ist ein Paradies«, sagte ich. »Glaub’s mir, Großpapa.«
    Mein Ton ärgerte ihn. »Wenn eine Utopie auf die Realität stößt, führt das immer zu Deformationen«, murmelte er und schüttelte den dreieckigen Echsenkopf. »Die Utopie wird verzerrt, aber …«
    »Nein, Großpapa. Hier ist nicht die Utopie deformiert worden, sondern die Realität.«
    »Was hat dich in dieser Welt am meisten gestört, Pit?«, fragte mein Großvater nach kurzem Schweigen.
    Es war wie ein Gruß aus der Kindheit. Wie viel Zeit hatte mein Großvater daran gegeben, mir beizubringen, den Kern einer Sache zu benennen. »Jammer nicht, sondern sag mir, was dir wehtut!« – »Wirf das Lehrbuch nicht in die Ecke, sondern sag mir, was du nicht verstehst!« -»Heul nicht, sondern erinner dich daran , wie sie dir auf die Nase gehauen haben!«
    »Die Ausbilder. Ihre Selbstsicherheit. Ihr … ihr Bemühen, Gutes zu schaffen.«
    »Und darüber regst du dich auf, Petja?«, fragte mein Großvater und brachte sogar einen echten Menschenlaut zustande. »Es ist doch nur zu begrüßen, wenn die Menschen an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben! Wenn sie versuchen, die Kinder danach zu erziehen! Gute Lehrer – genau das ist es, was unserer Gesellschaft fehlt!«
    Plötzlich fiel mir Tag ein. »Kinder brauchen keine guten Lehrer«, hielt ich dagegen. »Sie brauchen gute Eltern.«
    Daraufhin kicherte mein Großvater unvermittelt los. »Petja, deine Wissenslücken in Kombination mit deinem Geschick, sie zu stopfen, haben mich schon immer verblüfft. Jetzt ziehst du schon gegen Autoritäten zu Felde …«
    »Gegen Autoritäten muss man zu Felde ziehen. Das bringt ihre Position mit sich.«
    »Wenn ich das früher gewusst hätte …«, setzte mein Großvater an. »Aber lassen wir das. Was schlägst du vor, Petja?«
    »Den Schatten, Großvater. Ich sollte dahin aufbrechen …«
    »Warum ausgerechnet du?«
    »Ich kenne die Geometer. Also werde ich ihre Feinde schneller begreifen.«
    »Und wie stellst du dir diese

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