Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
kehrte nicht sofort in Okis Hütte zurück. Statt dessen saß sie eine Zeitlang am Flußufer und sah zu, wie das erste Mondlicht den Nebel versilberte, der sich vom Wasser erhob. Sie saß dort mit angezogenen Knien, eine Hand umklammerte den Stein an ihrer Kehle. Sie saß so lange dort, bis sich der Strom gänzlich im Nachtnebel verlor. Ihr Gehirn arbeitete mit kühler Objektivität, ihre Gedanken versanken in Mustern von geometrischer Symmetrie. Ihre Struktur war so deutlich und unpersönlich, daß sie kaum zu ihr zu gehören schienen.
Endlich erhob sie sich und ging zur Hütte zurück. Sie trat lautlos ein, blieb dann stehen und schaute auf Oki hinab, die dort schlafend lag, schwerfällig und angegraut. Okis Haar war unordentlich, die Hosen fleckig. Sie schlief mit offenem Mund. Lekki schlief zusammengerollt an ihrer Seite, einer ihrer pummeligen Arme war unbedeckt, ihr Atem ging leicht rasselnd, die Augenlider waren geschwollen, nicht vom Spinnengift, sondern vom Salz der Tränen.
Keva schaute lange auf Mutter und Tochter hinunter; ihre Gedanken waren so fern, wie sie es schon am Flußufer gewesen waren. Alles, was sie an Oki respektierte – Kraft, Ausdauer, Mut und Standhaftigkeit – und was immer sie an Lekki liebte – nichts davon traf auf sie zu. Sie war keine Weedfischerin. Sie war es nie gewesen.
»Ich gehöre nicht hierher, Oki«, sagte sie; ein leichter Ärger rührte sich in ihr.
Oki antwortete nicht.
»Ich gehöre nicht hierher, Oki«, wiederholte Keva weniger sanft.
Oki murmelte etwas und bewegte sich. Sie öffnete die Augen, ihr Blick wurde nur langsam klar. Oki schaute zuerst in Kevas Gesicht, dann auf den Stein an ihrem Hals. Sie setzte sich auf, und in ihren Gesichtszügen spiegelte sich Überraschung, die rasch von zunehmender Angst abgelöst wurde. »Der Stein ...«
»Ich habe ihn in deinem Versteck gefunden. Deshalb warst du heute morgen so erschrocken, als ich bei dir war. Das gehört meinem Vater, und du hast es vor mir versteckt!«
Oki rieb sich die Augen und schüttelte benommen den Kopf. »Nein. Dein Vater ...«
»Mein Vater hat mich bei dir gelassen, und er ließ diese Sachen für mich zurück. Du solltest sie mir geben.« So mußte es gewesen sein. Er hatte Oki den Stoff und den Stein für sie anvertraut. Sie waren eine Botschaft ihres Erbes und seiner Liebe. Vielleicht waren sie sogar ein Versprechen, ein Versprechen, das zu halten er nicht in der Lage gewesen war: daß er zu ihr zurückkehren würde. »Statt dessen hast du es versteckt!« Keva versuchte nicht, den harten Ton ihrer Stimme zu mildern.
Oki hob die dickfingrigen Hände zum Gesicht. Sie schlossen sich langsam, dann ließ sie sie fallen. »Bergdinge«, zischte sie.
So war ihr Vater aus den Bergen gekommen. »Sie gehören mir«, betonte Keva mit stolzem Nachdruck.
Oki stieg aus dem Bett, in ihren Augen loderte Feuer. »Ist das wahr?« herrschte sie Keva an, mit einer Stimme voller Gehässigkeit. »Und was wirst du durch sie erhalten? Eis und Stein und Feuer; das wirst du in den Bergen finden. Eis auf dem Boden, Stein im Herzen, und Feuer – Feuer, um alles, was dich ärgert, zu verbrennen. Ist das deine Antwort auf das, was ich dir beigebracht habe? Dich so zu verhärten, daß sich dort, wo dein Herz sein sollte, Stein befindet?«
Keva starrte Oki an, ihre Nackenhaare richteten sich auf. Eis, Stein, Feuer ... »Ich weiß nicht, worüber du redest. «
»Ich spreche über die Barohnas. Dieser Stein gehört einer von ihnen.«
Instinktiv drückte Keva den glattgeschliffenen Stein. »Nein, die Steine, die sie benutzen, sind schwarz. Par hat uns das gesagt. Sie ...«
»Ihre Sonnensteine sind schwarz; es sind die, mit denen sie verbrennen. Aber sie besitzen noch andere Steine, und dieser ist einer davon, genau so schlimm. Du mußt Stein sein, bevor du diesen Stein benutzen kannst. Du mußt so gefühllos und kalt wie Stein sein.«
Keva reagierte mit Stirnrunzeln auf Okis Eifer. Der Stein war ein Geschenk ihres Vaters. Sonst wäre Oki nicht in seinen Besitz gekommen.
»Ich bin nicht ohne Gefühl«, sagte sie steif.
Okis Ärger schwoll an. »Schlecht für dich!« Ihr Kiefer trat vor, so angespannt war er. »Weil es zwei Sorten von Bergfrauen gibt: die einen, die lernen, hart zu sein, und dann Barohnas werden – und solche, die es nicht werden. Diejenigen, die es nicht lernen, sterben. Ist das denn so viel besser, als eine Fischerfrau zu sein? In den Bergen bei dem Versuch zu sterben, genügend Härte zu erlangen,
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