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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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war ihr Haar nachtfarben und hing ihr gerade und glatt bis auf die Schultern hinab. Ihre Augen waren zugleich leuchtend und dunkel, die Augenbrauen zart gebogen. Lippen und Nase waren wohlgeformt und die Hände schmal, mit Nägeln, die sich rosa gegen die gebräunte Haut abhoben.
    All das sagte ihr, daß der bärtige Mann kein Traum war. Keiner der Fischer sah aus wie sie. Deren Augenbrauen waren dichter, die Körper massiger, die Haare struppiger. Und niemand war so dunkel wie sie, wie ein Schatten auf dem Wasser. Die einzige Person, die wie sie aussah, war der bärtige Mann.
    Wenn er ein Phantasiegebilde war, warum hatte sie ihn dann bis ins kleinste Detail nach ihrem Bildnis erschaffen?
    Und das Blaue Lied ... Manchmal, wenn die Sonne hell schien, konnte sie sich Bruchstücke davon ins Gedächtnis rufen. Sie konnte es so deutlich hören, als sänge es in den Bäumen; ein hohes, wortloses Sehnen. Doch in Wirklichkeit war das Lied von einer blauen, seidenen Schärpe gekommen, die der Mann beim Reiten um die Taille getragen hatte.
    Singende Seide? Das war phantastischer als alle Geschichten, die Par je erzählt hatte. Aber sie erinnerte sich an ihre Stimme. Keva wanderte verwirrt stromaufwärts bis zu dem felsigen Ort, wo die Geysire sprudelten. Sie schaute ihnen gedankenverloren zu, bis die Sonne aufging und die Tiefweeds ihre langen Stengel aussandten, die durch die Wasseroberfläche peitschten. Wasserwirbel trafen aufs Ufer, und die Hochweeds öffneten zögernd ihre Kehlen.
    Keva wandte sich in Richtung des Fischerdorfes und verließ das Flußufer, um zwischen den Bäumen zu wandern. Die Stämme waren dick und mit Moos bewachsen. Auf dem Grund verteilten die Schatten des Morgens Dunkelheit und Kälte. In der Stille verloren sich selbst ihre Schritte.
    Sie war so in ihre Gedanken vertieft, daß ihr erst, als sie Okis überraschtes Murren hörte, auffiel, daß sie Oki in ihrem Versteck aufgestört hatte. Als sie aufblickte, sah sie die Frau sich hastig in ihre Baumhöhle zurückziehen. Keva hielt inne, erschreckt und wie gelähmt durch die Bestürzung ihrer Pflegemutter.
    Oki wischte sich die schmutzigen Hände an den Hosen ab, ihre kräftigen Schultern wölbten sich, als erwarte sie einen Angriff.
    »Blattspitzen; frische Ernte vom Feuerkraut«, sagte sie rasch. »Da drin ist nichts anderes als medizinische Blattspitzen.«
    Keva hob die Augenbrauen. Nahm Oki an, daß sie ihre Vorräte durcheinanderbringen wollte, wo selbst die kleinsten Fischerkinder wußten, daß sie ein privates Lager nie ohne Erlaubnis anrühren durften?
    »Ich habe nichts gesehen«, erwiderte sie.
    Okis schwerer Kopf wackelte haltlos. »Feuerkraut«, sagte sie noch einmal, dann entfernte sie sich vom hohlen Baum. Sie starrte einen Moment lang leicht beunruhigt auf Keva, als erwarte sie Fragen. Dann wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht und sagte in scharfem Ton: »Du bist heute morgen weggegangen, ohne Feuer unter dem Kochtopf zu machen. Hast du Holz gesammelt?«
    Keva zögerte. Feuermachen gehörte zu den Pflichten ihrer Halbschwester, aber wahrscheinlich war Lekki fort, um mit ihren Freunden Borkenkäfer zu jagen, und hatte es vergessen. Keva bemühte sich, Okis anklagendem Blick auszuweichen.
    »Ich werde das Holz jetzt sammeln«, sagte sie schnell und trat durch die Bäume zurück.
    Sie hatte bereits Feuer gemacht und den Topf gefüllt, als Oki zur Feuergrube zurückkehrte; sie rieb noch immer die Hände an den Hosen ab. Murrend aber flink sortierte sie die Fasern, die in der Nähe auf einem Haufen lagen. Sie machte sich bedächtig an die Arbeit, die Fasern zu kochen und zu stampfen, aus denen später Kleider gewebt wurden. Keva fiel in den Arbeitsrhythmus und vergaß für kurze Zeit die Dinge, die sie verwirrten.
    Zu Mittag standen die Tiefweeds aufrecht, sie strebten der Sonne entgegen, und die Weedfischer ließen ihre Boote ins Wasser. Bald erklangen ihre Rufe über den Strom, und sie tauchten nach eßbaren Wurzeln und Knollen, die auf dem Grund des Flusses im Schlamm wuchsen. Teal, der größte der jungen Weedfischer, plätscherte und rief lauter als die anderen; sein prahlerisches Lächeln sollte Keva ermuntern, seiner Tüchtigkeit zu applaudieren.
    Keva ging nicht darauf ein. Sie war jetzt in dem Alter, um Moos von den Bäumen zu reißen und eine Matratze zu nähen, um diese mit Teal zu teilen. Andere in ihrem Alter hatten schon ihre erste Matratze gefertigt, aber die warmen Frühlingstage erweckten in Keva kein Verlangen, es

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