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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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sie untereinander Mutmaßungen an, wie groß ihre Chancen wären, die nächste Barohna des Terlath-Tals zu werden?
    Oder konnten sie einen Mangel an ihr entdecken? Einen so offenkundigen Mangel, wie sie ihn bei Aberra gesehen hatte? War es das, weswegen sie zuweilen einen Schatten in Richterin Minossas Augen entdeckte? Weil sie die einzige noch übrige Palasttochter war und Richterin Minossa keine Stärke in ihr erblickte? War es das, weshalb das Benehmen ihrer Mutter ihr gegenüber zurückhaltender war als je zuvor, seit Aberra gegangen war?
    Hatte sie die Stärke, eine Barohna zu werden? Konnte sie den Stein in ihr Herz nehmen und hart werden? Wenn sie übte – konnte sie ihr Tier erlegen und zurückkehren, um derart hochaufgerichtet zu schreiten, wie ihre Mutter es tat, und all die übrigen Veränderungen erlangen, die eine Barohna ausmachten? Oder würde sie sterben, wie Tanse gestorben war, wie Aberra gestorben war? Sie hatte schon vorher über diese Dinge nachgedacht, aber rein theoretisch und ohne das Gefühl, daß sie dringlich wären.
    Heute abend überfielen sie diese Fragen mit voller Wucht, und sie bemühte sich darum, Antworten zu finden. Manchmal, rief sie sich ins Gedächtnis, fühlte sie sich so stark wie ein Berg. Zu anderen Zeiten jedoch kam sie sich verletzlich vor, als könne die leichteste Brise sie zerbrechen. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, herauszufinden, was sie in Wahrheit war; schwach oder stark ...
    Aber das war nicht möglich. Keine Palasttochter war je zum Berg gegangen und hatte gewußt, ob sie zurückkehren würde. Was hätte es ihr auch genutzt? Wenn sie die Wahl hätte, wenn sie beschließen könnte, ein anderes Leben zu führen, wenn sie ihr Tal auf eine andere Weise bewahren könnte ...
    Es ging nicht. Die Wahl einer Palasttochter bestand darin, in den Berg zu gehen und zu überleben – oder in den Berg zu gehen und zu sterben. Eine Palasttochter hatte keinen anderen Lebenszweck und keinen anderen Dienst anzubieten.
    Das waren nicht die rechten Gedanken für einen Festtag. Reyna sah sich um; plötzlich bedrückte sie die feierliche Stimmung um sie herum, und der Kontrast ließ ihr die eigene Stimmung noch düsterer erscheinen.
    Ein Zweig für das Feuer ... Sie und Aberra waren immer auf die Plaza gegangen, bevor der Tanz anfing, und hatten die Scheiterhaufen mit Zweigen verstärkt. In diesem Jahr mußte sie Zweige für sie beide holen, und noch einen für Tanse.
    Verzweifelt griff sie nach dieser Entschuldigung, den Palast zu verlassen. Sie war bestimmt wachsbleich, während sie die steinernen Flure hinunter in Richtung der Plaza eilte. Palast', heiter unterbrachen ihre Tätigkeiten, um hinter ihr herzustarren. Eine ihrer Altersgenossinnen, die jetzt bei den Bäckern in der Lehre war, rief sie beunruhigt beim Namen.
    na schritt rascher aus und gab vor, es nicht gehört zu haben; ihre Stiefel klapperten heftig über den gefliesten Boden.
    Wenn sie die Wahl hätte; wenn Aberra die Wahl gehabt hätte; Tanse sie gehabt hätte ...
Aber für eine Palasttochter gab es keine Wahl. Als sie auf der Plaza ankam, rannte Reyna. Sie nahm kaum wahr, daß sie die Prachtstraßen erreichte. Sie hatte kaum Augen für die Steinhallen, die Stallungen, Vorratsgebäude und die eingedämmten Felder. Sie rannte und nahm keine Notiz von den Menschen, an denen sie vorüberkam, und hielt nicht einmal inne, um die helle Sonne zu begrüßen.
    Sie wurde nicht eher langsamer, als bis sie die Obstgärten erreichte. Dort warf sie sich atemlos ins Gras. Unreife Früchte hingen an den Bäumen und tranken das Sonnenlicht, um es in Süße zu verwandeln. Neue Zweige woben einen filigranen Baldachin hoch oben. Sie raschelten im Morgenwind und redeten mit hundert grünen Stimmen.
    Aberra, Tanse.
Reyna erkannte schnell, daß sie zum falschen Platz gekommen war, um ihren Kummer abzuschütteln. Der Garten beinhaltete zu viele Erinnerungen. Als Tanse gegangen war, um ihrer Prüfung zu begegnen, hatten sie und Aberra hier eine Rast eingelegt, während derer sie Aberra all die Dinge genannt hatte, die eine ältere Tochter der Tradition gemäß ihrer jüngeren Schwester überließ. Und als Aberra gegangen war, hatte Reyna hier bei den Kindern gestanden und ihr hilflos nachgeschaut.
    Reyna zwinkerte ihre Tränen fort und sah den Hang des Berges hinauf, zu der Stelle, wo sie an jenem Morgen Aberras weißes Hemd erblickt hatte. Könnte sie diesen Moment doch nur zurückrufen; könnte sie die Zeit zurückdrehen und

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