Sternhagelgluecklich
Nach nicht einmal drei Wochen Ehe!
Ich sitze gerade im Auto, als ich bemerke, dass mein rechter Ringfinger sich seltsam unbekleidet anfühlt. Beim Verlassen der Wohnung hatte ich ihn noch. Wo kann er sein? Dann fällt es mir ein: Um die zugefrorenen Scheiben freizukratzen, habe ich mir Handschuhe angezogen – bestimmt ist der Ring beim Ausziehen im Finger des Handschuhs stecken geblieben. Ich fahre also rechts ran und durchsuche zuversichtlich den Handschuh, den ich in meiner Eile vorhin auf den Rücksitz geworfen habe.
Nichts.
Auch auf dem Rücksitz selbst ist der Ring nicht zu finden. Ich merke, wie mir der Angstschweiß ausbricht. Denk nach! Als ich die Handschuhe auszog, stand ich neben dem Auto. Es ist also gut möglich, dass der Ring vor der Autotür in den Schnee gefallen ist. Ich wende. So schnell, wie ich gern würde, kann ich auf den verschneiten Straßen leider nicht fahren. An der Stelle, an der ich geparkt hatte, steht natürlich schon wieder ein anderes Auto. Zu allem Überfluss schneit es nicht nur immer weiter, sondern es wird auch langsam dunkel. Ich halte in zweiter Reihe, steige aus und umkreise fluchend den alten Parkplatz. Durchwühle den Schnee. Der ist natürlich nicht sauber, weiß und pulvrig, sondern, wie es sich für eine Großstadt gehört, grau, matschig und an manchen Stellen gruselgelb.
Der schneesiebende Kinderfresser
Der neue Schnee fällt schneller, als ich den alten durchsuchen kann. Ich renne nach oben in die Wohnung und bestelle im Internet eines dieser Metallsuchgeräte, mit denen wir in Kalifornien Rentner am Strand nach verlorenen Münzen suchen sahen. Neunundachtzig Euro, achtundvierzig Stunden Lieferzeit. Mir ist alles recht. Dann schnappe ich mir das große Plastiksieb, mit dem ich sonst die Nudeln abgieße, und laufe wieder nach unten. Die Löcher sind groß genug, um den Schnee durchzulassen, aber klein genug, um den Ring aufzufangen. Die Freude über meinen brillanten Einfall weicht jedoch schnell der Ernüchterung. Erfolglos siebe ich eine halbe Stunde lang Schnee. Menschen gehen vorbei und sehen mich an – jedoch nicht mitleidig, sondern mit einer eigentümlichen Mischung aus Neugier und Abscheu. Kinder zeigen mit dem Finger auf mich und fragen ihre Mütter, was »der komische Mann da« macht, bevor ihre Mütter sie ängstlich weiterziehen, so als wäre ich ein gefährlicher Irrer, der – wenn er erst mal mit dem Schneesieben fertig ist – ihren kleinen Moritz-Tjorven oder ihre niedliche Sophie-Lara mit Haut und Haar verspeisen würde.
Irgendwann steht ein Mann mittleren Alters vor mir. Ist etwa endlich jemand bereit, mir in meiner Notlage zu helfen?
»Was machen Sie da an meinem Auto?«, herrscht er mich stattdessen an.
Während ich ihm meine Situation erkläre, werfe ich weiter wie besessen Schnee durch das Küchensieb. Er merkt scheinbar, wie ernst es mir ist, und hat ein Einsehen. Er fährt sogar netterweise seinen Wagen ein wenig zur Seite und macht mir mit seinen Scheinwerfern Licht, damit ich besser suchen kann.
»Ehering, was?«, sagt er, während er sich eine Zigarette anzündet und sich an seinen Wagen lehnt. Beim Suchen helfen will er mir offensichtlich nicht, was ich in Anbetracht der Schneeverfärbungen auch gut verstehen kann. »Na, das gibt sicher Ärger …«
Ich überlege, ob ich ihm für diese präzise wie überflüssige Einschätzung danken soll, habe dann aber zu viel Angst, dass er sein Auto wegfährt und ich wieder im Halbdunkel herumkriechen muss. Natürlich gibt das Ärger. Wie soll man denn glaubhaft erklären, dass es einem ernst ist mit Ehe und Treue und ewiger Liebe, man aber nicht einmal in der Lage ist, länger als drei Wochen auf so einen vermaledeiten Ring aufzupassen?
Mein Vater hat seinen Ehering beim Schwimmen im Badesee verloren, es liegt also ein wenig in der Familie. Aber er hatte immerhin den Anstand, sich diesen Fauxpas erst nach etwa zwanzig Jahren Ehe zu erlauben und nicht bereits nach zwanzig Tagen.
Nach einer weiteren halben Stunde habe ich wirklich jede einzelne Schneeflocke, die im Umkreis von zehn Metern gefallen ist, durch das Sieb geschickt. Meine Hände sind trotz der Handschuhe steif gefroren, und mir bleibt nichts anderes übrig, als aufzugeben. Innerlich habe ich mich bereits darauf eingestellt, nach Hause zu gehen, den Verlust zu beichten und auf der Webseite von Tiffany’s zähneknirschend einen neuen Ring zu bestellen. Vorher jedoch schaue ich ein letztes Mal auf der Rückbank des Autos nach.
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