Sterntaucher
stimmt’s? Was ist mit dir, bist du feige oder was? Kann ich mir kaum vorstellen, warst es doch früher nicht.
Früher, immer wieder früher – wie siehst du heute aus, wie lebst du jetzt? Ina sah aus dem Fenster auf eine regennasse Straße und hörte Kissels Atem neben sich, ein ungeduldiges Schnaufen, weil man ihn warten ließ. Tagelang war er auf ihren Fehler bei der Vernehmung Thieles zurückgekommen: »Du darfst einem zu Vernehmenden doch nicht mit persönlichen Ansichten kommen«, hatte er gesagt. »Warum fährst du ihm in die Parade, wenn er aussagt, was die Kammer auf den Partys gemacht hat? Und wen interessiert das denn, ob die Kempers Freundin war oder seine wasweißich.«
»Frag diese Frau Klein«, sagte sie, »die kann dir das bestätigen. Wenn der Typ Mist redet –«
Doch Kissel war ein Hund, der sich verbiß. »Das interessiert doch überhaupt nicht«, brüllte er. »Ob der ihr Stecher war oder ihr Master, geht mir am Arsch vorbei.«
»Er hat sie mißhandelt, verdammt noch mal.«
»Gut«, rief er, »irgendwo mußte er ja mal anfangen zu üben.«
»DU BIST EIN SCHEISSKERL.«
»Ich weiß.« Er hatte gelächelt, bevor er sich mit Genuß auf den nächsten Fehler stürzte, den wiederum Stocker beging, als er Dorian Kammer ohne ihr Wissen zur Vernehmung bat. Doch dein Sohn lief weg, Mama Kammer, warum? Weil sie neu für ihn waren, die Geschichten von den Partys, oder weil er sie kannte? Weißt du was, dauernd sehe ich den kleinen Jungen auf dem Video, der den Geschichten seiner Mama lauscht, Geschichten von Vögeln. Warum hattest du diesen Vogeltick, wegen der Freiheit? Wolltest fliegen, ja? Sie blieb am Fenster stehen, malte unsichtbare Blumen auf die Scheibe und sah dem Regen zu. Kein Vogel war draußen zu sehen. Rücklichter eines Wagens leuchteten in einer Pfütze wie ein Alien mit bösen Augen.
Sie warteten auf Richard Belloff. Seine Frau hatte sie unfreundlich empfangen und in ein altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer geführt.
»Meinen Mann muß ich erst wecken«, erklärte sie. »Er braucht viel Schlaf, auch am Tag. Außerdem sind wir nicht eingerichtet auf unangemeldeten Besuch.«
»Wir sind kein Besuch«, sagte Kissel. »Wir sind Polizisten.«
Noch einmal war sie erschienen, hatte polternd die Tür aufgerissen und sich mit kleinen, schnellen Augen umgesehen, bis Kissel sagte: »Wir klauen nichts. Wir sind Polizisten.«
»Hattest du Knatsch mit deinem Lover?« fragte er jetzt.
Ina sah ihn nicht an. »Nein, wieso?«
»Du bist so versonnen, versponnen, verloren.«
Sie schüttelte den Kopf. Man quasselte in fremden Wohnungen nicht drauf los, noch nicht einmal Privates. Sollte sie ihm das jetzt sagen? Doch gegen den großen Verbesserer der Fehler anderer kam sie ja ohnehin nicht an.
»Ich finde mich nicht unbedingt mit Dorian Kammers Alibi ab«, hatte sie im Wagen gesagt, worauf er leise lachte und wissen wollte: »Auf einmal? Aber er ist doch ein Kollege, Schatz.«
»Vielleicht läuft alles falsch. Wir unterstellen der Kammer ein Motiv, weil wir Robin unterstellen, sie erpreßt zu haben.«
»Wofür es Indizien gibt.«
»Außerdem die Anzahl Messerstiche«, sagte sie. »Ich meine, Übertöten deutet in erster Linie auf einen Perversen hin.«
»Und auf eine Beziehungstat, auf rasende Wut«, sagte er, was genauso klang, als hätte er Schluß jetzt gesagt, halt die Klappe. Sie hatte ihn daran erinnern wollen, daß es ihr Verdienst gewesen war, diesem fahrigen Crack-Bündel Oliver Thiele im Vernehmungszimmer Namen zu entlocken – Richard Belloff war einer dieser Namen, den sie aus Thiele fast herausgeschrien hatte, Kissel vergaß so etwas leicht. Belloff also, Mittagsschläfer, und was noch? Ein leises Surren auf dem Flur, und dann wieder die schnellen Schritte der Frau. Diesmal wurde die Tür behutsam geöffnet, und Ina sah zuerst die Beine, dann den Rollstuhl, dann den Mann.
Schön, da mußte man jetzt durch. Eine von Tommys Schwestern fiel ihr ein, diese Superschlaue, die sich nicht beruhigen konnte, als sie bei Ina ein Computerspiel sah, dessen Sinn es war, einen Rollstuhlfahrer durch ein Labyrinth zu bugsieren.
»Das ist doch menschenverachtend«, hatte sie gerufen.
»Das ist was? «fragte Ina. »Du hast wohl einen Knall, das ist ein realistisches Spiel, ich meine, wenn ich einen Rollstuhlfahrer schiebe, muß ich auch aufpassen, daß der nicht überall gegenknallt. Mach mal meinen Job, dann paßt du bißchen auf mit den Worten. Menschenverachtend, wenn ich das schon
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