Sterntaucher
Robin war ein Maulwurf, der grub alles aus, grub sein kurzes, blödes Leben lang im Dreck. Selbst wenn es anfing zu stinken und nur noch Schlamm zwischen seinen Fingern spritzte, wühlte er weiter und hörte nicht auf. Mir passiert nix.
Ja, genau.
Paß auf, Mann, sagte Robin, das checken wir.
Dorian trat vom Fenster zurück und sah sich um. Das war noch immer seine Wohnung, doch erschien sie ihm kleiner und fremder mit jedem Tag. Immer wieder leuchteten Feuer in seinem Kopf, kurze, helle Blitze, die etwas beleuchteten, was modrig war und kein Mensch sehen wollte, weil kein Mensch auf dieser Welt Lust dazu hatte, mit einer Taschenlampe in einem verkommenen Keller ein Rattennest aufzustöbern.
Ihm passierte das aber. Die Taschenlampe steckte in seinem Kopf, und die Keller waren überall, wohin er sich auch drehte. Moder und Rauch überall und Gesichter, die sich verzerrten, sah er nur lange genug hin. Vor seinen Augen zerfiel die ganze Welt.
»Geh«, hatte Nicole zu ihm gesagt. »Geh nach Hause.«
Geh sterben.
Feige Nicole, feige, schöne, ängstliche Nicole, du hast mich verraten. Aber der Betrunkene, den sie aus einer Kneipe abholen mußten, war doch ein renitentes Schwein gewesen, das ihn beschimpft und bespuckt und getreten hatte. Die Polizei war aber nicht dazu da, von jedem Asozialen mit Dreck beworfen zu werden, so hatte er das immer gesehen, die Polizei trat an, den Dreck fortzuschaffen, und als er im Streifenwagen diesem Säufer seinen Schlagstock in die Rippen rammte, hatte Nicole die Tür aufgerissen, und ihre Stimme war rauh gewesen: »Geh. Geh hier weg.«
Geh sterben. Darauf lief es hinaus. Wachte er morgens auf, versuchte er die Tage zu schätzen, die er schon am Leben war. Die Zeit kam ihm gering vor, 8200 Tage, grob gerechnet, und er glaubte nicht, daß er neuntausend schaffte oder noch mehr. Bald würde er sterben müssen, nur wußte er nicht, wie das geschah. Vielleicht durch Ersticken, wenn Robin sich schwer auf seine Lungen legte? Robin hatte 6753 Tage geschafft, draußen im Licht, und hauste jetzt in einer dunklen Höhle voller Blut.
»Robbi«, flüsterte er. »Bist du wach?«
Doch Robin war ein unhöflicher Mensch, der keine Antworten mehr gab, bloß schwerer und schwerer wurde mit jedem Tag und in ihm herumplumpste wie ein Sack schimmliger Kartoffeln. Robin war der einzige Mensch, der seiner Beerdigung zuschauen durfte, oder hatte Christus das auch getan? Auf dem Friedhof hatte Dorian zu Tillmann sagen wollen: Die Kiste ist leer. Oder vielleicht lagen auch Steine darin oder einer dieser unbekannten Toten, die im Leichenhaus darauf warteten, daß einer kam und sagte: Ja, den hab ich gekannt, der war mal ein Mensch. Man war ja niemals ein Mensch gewesen, lag man tot mit einem Fragezeichen herum, ohne vermißt zu werden, ohne daß irgendwo sich einer sorgte. Wer lag in Robins Sarg? Du mußt nicht so tun, als würdest du heulen, du Sack, wollte er zu Tillmann sagen, Robin ist nicht drin. Aber Tillmann hatte so schwer geatmet, daß Dorian glaubte, der fiele vor Schreck in die Grube, wenn er ihm erzählte, wie es war.
Verlorene Zeit. Lebenszeit hatte er verloren, an einem Grab zu stehen, in dem niemand lag, den er kannte.
Langsam durchquerte er sein Wohnzimmer und holte noch einmal den Schuhkarton hervor, in dem die Bilder lagen, der kleine Robin vor der großen Kuh oder ihre Mutter im roten Kleid, wie sie die Sterne vom Himmel holte, nachts auf einer Straße. Robins kleiner Teddy war auf dem Bild zu sehen, und Dorian erinnerte sich plötzlich, daß er Paco hieß. Es waren so fröhliche Bilder, die erzählten, wir müssen nie sterben, denn was soll geschehen?
»Mir passiert nix«, sagte Robin. Wie alt war er, zwölf? Er hockte auf der Fensterbank und stieß mit dem Absatz seiner schweren Stiefel gegen die Wand, weil er wußte, daß die Wand darunter litt. Frau Tillmann, wenn sie durchs Haus fegte, redete so, für Frau Tillmann litten alle toten Dinge, wenn man darin lebte, litten der Teppichboden und die Tapeten und überhaupt alle Möbel aus Holz, gegen die sie manchmal traten.
Zieh die Schuhe aus, Robin, der Teppichboden leidet.
Dorian, hampel nicht so herum, da leidet das Sofa.
Oben im Haus war der Fernseher zu hören und Tillmanns lautes Gejammer über seinen Chef. Hier unten in ihren paar Quadratmetern ließ Robin die Wand leiden und sagte: »Hat mein Kumpel erzählt. Mein Kumpel, der kennt einen, der weiß das. Da ist so ein Schuppen am Riederwald, da treffen sich immer welche,
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