Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
samt Wachposten erschießen. Die Leichen der Belgier band er auf tote Pferde und warf
sie als »reitende Leichen« in die Maas, um ihren neutralen Landsleuten einen »Denkzettel« zu verpassen.
10. Der Kampf um Paris
Währenddessen riefen in Paris unter dem Eindruck der kaiserlichen Niederlage bei Sedan Jules Favre und Léon Gambetta die Republik
aus. Am 4. 9. 1870 bildeten sie eine provisorische Regierung der »nationalen Verteidigung« und machten sich sofort an die Aufstellung eines Volksheeres,
das die vom Kaiser »eingeladenen« Deutschen aus dem Land treiben sollte. Der neue Innenminister verließ das belagerte Paris
in einem Freiballon und sorgte auf dem Land für die Mobilisierung der Bevölkerung (
levée en masse
). Eine eilig aufgestellte Loire-Armee errang überraschende Siege über die Deutschen, die im Oktober bei Orléans und im November 1870 bei Coulmier geschlagen wurden. Eine Nordarmee, die das belagerte Paris befreien wollte, blieb jedoch bei Kämpfen gegen preußische
Verbände in Amiens, St. Quentin und Bapaume hängen.
Die republikanische Begeisterung schwappte von Paris nach Reims, wo der Bürgermeister seines Amtes enthoben und ein demokratischer
Konvent von zehn Bürgern eingerichtet wurde. Stieber, der Präfekt von Bismarcks Gnaden, konnte derartige Veränderungen nicht
dulden: Er verjagte den Konvent und befahl dem alten Bürgermeister, in sein Amt zurückzukehren. Die konservativen Kräfte (»darunter
viele Millionäre«) der Stadt Reims dankten es ihm und baten um zukünftigen Schutz vor den revolutionären Republikanern. Stieber
setzte (trotz heftiger Kritik in der liberalen deutschen Presse) auf die Konservativen, denn »man kann nicht gegen 30 Millionen Franzosen ankämpfen«.
Das Hauptquartier (und damit Stieber) rückte weiter auf Paris vor: nach dem harmonischen Reims folgen Chateau-Thierry, Meaux
und Lagny, wo man im Schloß des Barons Rothschild abstieg. Schon ein Tag nach dem Einzug im Schloß Ferrières machte der neue
Außenminister Jules Favre den Preußen seine Aufwartung und leitete die Kapitulationsverhandlungen ein, die nach einem neuen
Umzug des Hauptquartiers über fünf lange Kriegsmonate hinweg in Versailles fortgesetzt wurden.
Nach Versailles hatte sich der alte Adel zurückgezogen, der mit den Republikanern nichts am Hut hatte und deshalb die Deutschen
freundlich empfing. Doch selbst Paraden und die »Großen Wasser« im Schloßpark täuschten Stieber nicht über die wahren Verhältnisse
hinweg:Man befand sich in Feindesland und mußte auf der Hut sein. Als die täglichen Verpflegungskosten von 2000 Francs pro Offizier den Bürgern zuviel wurden, verschlechterte sich die Beziehung zwischen Franzosen und Besatzern.
Stieber traf seine üblichen Sicherheitsvorkehrungen. So richtete er neben einer Fremdenpolizei ein Einwohnermeldeamt nach
Berliner Vorbild ein und legte Pläne aller Gebäude, Straßen und Hauszugänge an, um auf ein Attentat vorbereitet zu sein. Seine
Leute stellten eine Liste von 100 verdächtigen Personen auf, die im Ernstfall sofort verhaftet werden sollten. Dazu durchforsteten
die Agenten das Strafarchiv der französischen Polizei, die Mitgliedslisten der »Demokratenpartei« und die Abonnenten-Aufstellung
der Zeitung ›Liberté‹ (die unser Inspektor Lamartine so genau zu lesen pflegt).
Am 21. Oktober 1870 verschlechterte sich auch die militärische Lage: Die in Paris eingeschlossenen Truppen unternahmen einen Ausfall in Richtung
Versailles und konnten nur unter großen Verlusten zurückgeworfen werden. Zum ersten Mal mußte Stieber eingestehen, von einer
wichtigen Militäraktion nichts gewußt zu haben. Wütend griff er durch: Um der Freiluftballonspionage Einhalt zu gebieten,
ließ er die Ballons mit einem eigens bei Krupp konstruierten »Special-Ballon-Abwehrgeschütz« abschießen und die Flieger hinrichten.
Mehrere Angehörige der Versailler Häuser, die die Deutschen bewirtet hatten, wurden der »Kollaboration« mit den eingeschlossenen
Truppen überführt und erschossen.
Am 22. Oktober 1870 wurde der Belagerungszustand über Versailles und Umgebung verhängt – die Zeit der champagnerseligen Etappe hatte ein Ende.
Es folgten massenhaft Hausdurchsuchungen, 300 Festnahmen und nächtelange, harte Verhöre.
Die Pariser dachten nicht daran, ihre Stadt zu übergeben, und Bismarck erklärte den entnervten deutschen Militärs: »Nicht
auf unseren
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