Stigma
mich verstehen können.«
Toms Puls beschleunigte sich jäh, als das Gesicht über ihm näher kam. Das Piepen der Maschine wurde schneller, immer schneller, während seine Augen wie magnetisiert auf den Mann über ihm geheftet blieben.
»Der Blutdruck geht hoch«, meldete die Frauenstimme nervös. »Hundertfünfzig zu zweiundneunzig. Weiter ansteigend.«
Tom wollte etwas sagen, doch es kam nur ein trockenes Krächzen heraus.
»Hundertdreiundsiebzig zu hundertfünf.«
»Konnten Sie verstehen, was er gesagt hat?«, fragte der Mann.
»Ich … ich bin nicht sicher«, erwiderte die Frauenstimme, »aber ich glaube, es war ein Name. Hat sich angehört wie Gerrit oder so.«
Tom nickte schwach und versuchte abermals, etwas zu sagen. Doch seine Stimme klang wie ein eingerostetes Tor, das im Wind hin und her schwang.
»Hundertneunzig zu hundertdreißig! Er kollabiert uns gleich, Herr Doktor!«
»Ein Anfall!« Der Mann fuchtelte hektisch mit den Armen. »Irgendetwas muss ihn in Panik versetzt haben. Schnell, zwanzig Milligramm Benzodiazepin !«
Ängstlich schaute Tom sich um und erblickte einen Infusionsschlauch über seinem Bett, an dem eine junge Frau in weißer Schwesterntracht hantierte. Sie zog eine Spritze auf und schob sie in eine Öffnung des Schlauches.
»Ist drin«, verkündete sie knapp. Und gleich darauf: »Puls und Blutdruck gehen runter.«
»Das kann nicht sein«, widersprach der Mann. »So schnell wirkt das Zeug nicht.«
»Puls hundertzwanzig, Blutdruck hundertfünfzig zu fünfundneunzig«, kam es als Antwort. »Werte sinken weiter.«
Der Mann mit der Brille sah ein wenig ratlos auf Tom herab. »Nun, anscheinend ist der Anfall vorbei«, stellte er verwundert fest. »Möglicherweise hat er etwas Vertrautes gesehen, das ihn …«
»Doktor Clausen«, unterbrach ihn die Schwester.
Tom sah nicht, wie sie auf die Tür deutete. Er hatte nur noch Augen für die Frau, die dort stand. Sie hatte die Hände vor den Mund gepresst, und Tränen rannen über ihre blassen Wangen. Rasch strich sie sich die Strähnen ihres stufig geschnittenen Haares aus Stirn und Gesicht, und Tom sah, wie grau es geworden war. Ein zaghaftes Lächeln zeigte sich auf ihren vollen Lippen. Langsam, beinahe anmutig, kam sie auf sein Bett zu. Dann schluchzte sie laut auf, ergriff seine Hand und streichelte sie zart.
Toms kraftloser Händedruck löste sich, und er fuhr ihr ungelenk mit den Fingern über die Wangen, versuchte die Tränen zu trocknen. Dann formten sich seine Lippen zu Worten, und dieses Mal sprach er sie so klar und deutlich, dass alle im Raum es verstehen konnten:
»Nicht weinen, Mama.«
TEIL VIER
Zeit des Lichts
Drei Tage später
Donnerstag, 26. Mai
Uni-Klinik Wiesbaden
T ut mir leid, dass Sie warten mussten.« Dr. Clausen betrat mit mehreren Aktenordnern unter dem Arm sein Büro. Er trug weiße Klinikkleidung und machte einen sehr geschäftigen Eindruck. »Aber ich musste noch ein paar Unterlagen sortieren. Ihr Sohn gibt uns reichlich Stoff zum Archivieren.«
Miriam Kessler sah von dem Stuhl vor Dr. Clausens Schreibtisch auf und lächelte müde. Die blasse Haut ihres Gesichtes ließ sie älter erscheinen, als sie war. »Ich habe fast vier Jahre gewartet«, meinte sie, »da kommt es auf ein paar Minuten auch nicht mehr an, Herr Doktor.«
»Da haben Sie recht«, pflichtete er ihr bei. »Zumal sich das Warten wirklich gelohnt hat. Denn nach dem, was Ihr Sohn uns in den letzten Tagen alles erzählt hat, müssen wir wohl die Fachbücher umschreiben.« Er legte die Aktenordner auf seinem Schreibtisch ab. »Das ist erst ein Teil von dem, was wir bis jetzt analysiert und ausgewertet haben. Es ist einfach unglaublich«, fuhr er wie im Rausch fort. »Ihr Sohn zeigt uns Wege auf, die wir bis jetzt für unmöglich gehalten haben. Dinge, die in dieser Weise noch nie dokumentiert worden sind. Damit wird er in die Geschichte eingehen!«
Sein Eifer verschwand, als er sah, dass Miriam Kesslers Lächeln verschwunden war. Stattdessen hatte sich ein Ausdruck der Entrüstung auf ihre verhärmten Züge gelegt.
Dr. Clausen atmete tief durch und setzte sich. »Bitte entschuldigen Sie meine Euphorie«, meinte er etwas eingeschüchtert, »aber dieser Fall ist wirklich einzigartig. Selbstverständlich weiß ich, wie schwer die letzten Jahre für Sie gewesen sein müssen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Toms Mutter mit müder Stimme.
»Sie haben recht, niemand kann das.« Er schlug einen weniger
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