Stigma
lebhaften Ton an. »Aber wir können diese neuen Erkenntnisse auf Patienten übertragen, die in einem ähnlichen Zustand sind wie Ihr Sohn. Daher verstehen Sie bitte unsere Aufregung.«
Miriam Kessler seufzte. »Ich verstehe Sie durchaus«, lenkte sie ein. »Und eigentlich bin ich auch gar nicht wütend. Nur unendlich müde.«
»Das kann ich nachvollziehen«, beteuerte Dr. Clausen. »Die letzten Tage waren auch für uns sehr turbulent.«
»Glauben Sie mir, ich weiß Ihr Engagement durchaus zu schätzen«, sagte sie, und ihre Miene wurde weicher. »Sie haben viel für meinen Jungen getan. Aber vor allem haben Sie ihn nie aufgegeben. Dafür bin ich Ihnen auf ewig dankbar.« Wieder setzte sie zu einem zaghaften Lächeln an.
»Was Ihre Dankbarkeit betrifft«, fuhr Dr. Clausen nach einer kleinen Pause fort, »ich denke, sie gebührt eher Tom.«
»Und wie genau darf ich das verstehen?«
»Na ja, wir haben natürlich alles in unserer Macht Stehende getan, aber eigentlich war es Tom, der sich selbst ins Leben zurückgeholt hat. Das heißt, im Grunde war es mehr seine Fantasie.«
»Und genau deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen«, sagte Miriam Kessler. »Wie Sie sich bestimmt vorstellen können, habe ich eine Menge Fragen.«
Dr. Clausen nickte. »Natürlich. Legen Sie los.«
»Zunächst einmal würde mich interessieren, wieso Tom felsenfest glaubt, dass meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.«
Dr. Clausens Augenbrauen senkten sich nachdenklich. »Stimmt das nicht?«
»Nein, sie erfreuen sich beide bester Gesundheit und kümmern sich im Augenblick rührend um Toms Schwester, die mittlerweile bei ihnen wohnt, und zwar in dem Haus, von dem Tom steif und fest behauptet hat, es gehöre jetzt ihm.«
Dr. Clausen stieß Luft durch die Nasenflügel. »Mein Gott«, brummte er schließlich und fing an, sich Notizen zu machen. »Das ist wirklich faszinierend. Mehr als das, es ist unglaublich!«
»Dr. Clausen?«
Trotz dieser neuen Erkenntnisse entging ihm ihr vorwurfsvoller Unterton nicht, und er legte den Stift widerwillig beiseite. »Also gut, aber um Ihre Frage zu beantworten, muss ich zum besseren Verständnis ein wenig weiter ausholen.«
Miriam Kessler nickte. »Meinetwegen.«
»Na schön«, begann Dr. Clausen und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Wie Sie ja wissen, befand sich Ihr Sohn in den letzten sechsundvierzig Monaten in einem komatösen Zustand. Ursache war ein kompletter Zusammenbruch des Kreislaufsystems. Das zumindest dachten wir, denn er musste sofort nach dem Eintreffen des Notarztes reanimiert werden, noch während des Transports. Anschließend fiel er in eine Art Wachkoma. Er konnte zwar eigenständig atmen, und ein Schlaf-Wach-Rhythmus war ebenfalls vorhanden, aber er musste künstlich ernährt werden und war augenscheinlich nicht in der Lage, auf äußere Reize zu reagieren. In der Medizin nennt man diesen Zustand auch Apallisches Syndrom.«
»Ja«, sagte Miriam Kessler ein wenig ungeduldig, »das haben Sie mir alles schon mehrfach erklärt.«
»Das ist richtig«, bestätigte Dr. Clausen. »Aber bis jetzt sind wir immer davon ausgegangen, dass der Zusammenbruch und der daraus resultierende Sauerstoffmangel die Ursache dafür gewesen sind.«
»Und dem war nicht so?«
»Nein. Sehen Sie, grob gesagt besteht unsere Schaltzentrale aus einem Stammhirn und einem Großhirn. Das Stammhirn steuert die Lebenserhaltung: Atmung, Herzschlag, Schlafrhythmus, Reflexe. Das Großhirn ist quasi das Zentrum des Bewusstseins und des Denkens. Hier sind unsere Fähigkeit zu fühlen und unsere Persönlichkeit angelegt. Im Falle eines Apallischen Syndroms sind Teilbereiche des Großhirns geschädigt, aber das Stammhirn funktioniert noch. Dadurch ist das Bewusstsein weitestgehend ausgeschaltet, und der Patient hat keinerlei Möglichkeiten, auf äußere Reize anzusprechen. Zumindest haben wir das bis vor kurzem angenommen.«
Er schlug einen der Ordner auf, blätterte zu einer bestimmten Seite, heftete sie aus und reichte sie Toms Mutter. Das Blatt war in verschiedene Bereiche unterteilt, in denen mehrere untereinander verlaufende Linien mehr oder weniger starke Ausschläge nach oben und unten aufwiesen.
»Was Sie hier sehen, ist die Aufzeichnung eines Elektro-Enzephalogramms«, erläuterte Dr. Clausen, »allgemein auch als EEG bekannt. Es misst die Hirnströme, und wie Sie sehen können, waren die bei Ihrem Sohn auch während seines Komas weiterhin sehr aktiv. Mehr noch, seine Reaktionen, wenn
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