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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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oder ihm die Zähne einschlagen sollte. Er hatte ihm das Leben gerettet, indem er es zerstörte. Wenn man es auf diese Weise betrachtete, klang das Ganze absurder, als es ohnehin schon war. Denn eigentlich konnte er Fanta noch nicht einmal einen Vorwurf machen, er existierte ja gar nicht. Jedenfalls nicht auf diese Art. Er war nur der Teil seiner selbst, der sich gerne Geschichten ausdachte.
    »Werde ich dich je wiedersehen?«, fragte Tom.
    »Immer dann, wenn du es zulässt, mein Freund«, antwortete Fanta.
    Tom schaute auf die Waffe in seiner Hand hinunter. »Eigentlich tue ich es ja nicht wirklich, nicht wahr? Ich meine …«
    »Du tötest nur deine Vorstellung von ihnen.«
    Tom nickte. Die Tränen hatten sein Kinn erreicht, als er sich langsam umdrehte. Karin und Mark saßen noch immer an die Wand gelehnt da und starrten ihn mit ihren leeren Augen an. Doch ihre Gesichter waren jetzt blasser, unwirklicher, fast durchsichtig.
    Es ist nur eine Fantasie, dachte er, als er Karin betrachtete. Nur eine der Figuren in dieser Geschichte. Ein Hirngespinst, das gealterte Abbild dessen, was einmal deine Jugendliebe gewesen ist. Nichts weiter als eine Wunschvorstellung!
    Doch sosehr er sich das auch einredete, es machte die Entscheidung nicht leichter. Denn immerhin hatte diese Wunschvorstellung jahrelang zu ihm gehalten und ihm versichert, dass sie ihn liebte. Hatte diese Illusion einer Familie zusammengehalten. Seine Kehle schien immer enger zu werden, als er die Pistole hob, um sie auf das zu richten, was bis eben noch sein Lebensinhalt gewesen war. Schweiß gesellte sich zu den Tränen und tropfte zu Boden. Ein Schauer der Verzweiflung überlief ihn.
    »Es tut mir leid«, keuchte Tom, während seine Hände zitternd die Waffe umklammerten. »Aber ich will wieder leben.«
    Er schloss die Augen und drückte ab.
    Immer wieder.
    Und noch ehe er darüber nachdenken konnte, was er gerade getan hatte, erfasste ihn die Erinnerung wie eine riesige Welle und riss ihn zu Boden.
    Ein letztes Mal raste der Zug der Vergangenheit auf ihn zu, und er spürte regelrecht, wie sein Sog ihn mitriss. Er drehte sich, wurde herumgewirbelt, hatte das Gefühl, seinen Körper zu verlassen.
    Als er die Augen wieder öffnete, stand der Wächter neben ihm, genau an der Stelle, wo Fanta gestanden hatte. Tom blickte zu ihm auf, sah, wie sich die Lippen des Mannes bewegten, wie sie Worte formten, die er schon einmal gehört hatte:
    »… werde die Tage, Monate und Jahre zählen, bis es so weit ist. Und dann werde ich dir wegnehmen, was du mir genommen hast. Ich werde dich spüren lassen, was Verlust ist.«
    Es war, als wäre er in eine Fortsetzung seines Alptraums geraten, von dem er geglaubt hatte, er wäre beendet und jetzt würde er endlich daraus erwachen. Doch nun hatte es den Anschein, als wäre die Frist verlängert worden. Er war wieder der dreizehnjährige Tom, der inmitten von Scherben blutend und mit zerschmettertem Bein auf dem Boden lag und dem dunklen Abgrund entgegenraste. Der Schmerz, der seinen Körper vereinnahmte, ließ nach, wurde langsam ausgeblendet. Genau wie sein Seh- und Hörvermögen. Die Bilder wurden dunkler, die Geräusche leiser, als entferne er sich von dem Geschehen. Tom hatte die Kontrolle abgegeben. Sein Körper war desertiert, gehorchte ihm nicht mehr, war zu einem stillen Beobachter geworden. Wie durch eine Wand aus Wolle hindurch hörte er das Splittern der Haustür. Dann schnelle Schritte, Getrampel, Stimmen auf der Treppe zum Keller. Schließlich stürmten zwei Männer in Uniform durch die Kellertür, die Pistolen im Anschlag. Einer der beiden schrie: »Keine Bewegung! Auf die Knie, Hände hinter den Kopf!«
    Tom sah, wie der Wächter gehorchte. Ohne eine Miene zu verziehen und ohne die leiseste Gegenwehr folgte er den Anweisungen. Weitere Polizisten drängten in den Keller, und ihre Gesichter erstarrten, als sie Tom entdeckten. Einer der Männer trug keine Uniform. Er löste sich von den Übrigen und stürzte auf ihn zu.
    »Tom!«, hörte er ihn rufen, während er reglos in das entsetzte Gesicht des Mannes starrte, der sich neben ihn kniete. »Mein Junge! Um Gottes willen!«
    Papa! Tom wollte schreien, ihn umarmen, ihm sagen, wie froh er war, ihn zu sehen. Doch er nahm das alles bereits auf einer unterbewussten Ebene wahr, auf der es ihm nicht mehr möglich war, nach außen hin zu agieren. Zu tief hatten Hass, Angst und Schmerzen sich in ihm verankert, zu weit war er in den dunklen Abgrund vorgedrungen. Sein

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