Stille Nacht
einemmal war die Luft
von den Klängen des Lieds »Stille Nacht« erfüllt, und die
Menschen fingen an zu singen.
Catherine machte am Bordstein kehrt. »Wartet mal, laßt uns
ein paar Minuten zuhören«, sagte sie zu den Jungen.
Brian bekam das Stocken in ihrer Kehle mit und wußte, daß
sie versuchte, nicht zu weinen. Er hatte Mom noch kaum je
weinen sehen, bis zu dem Morgen letzte Woche, als jemand aus
dem Krankenhaus anrief und sagte, daß Dad ganz schlimm
krank sei.
Cally ging langsam die Fifth Avenue hinunter. Es war kurz nach
fünf, und sie war umgeben von einem Strom mit Päckchen
beladener Weihnachtskunden, die auf den letzten Drücker
einkauften. Es hatte eine Zeit gegeben, da sie sich von der
allgemeinen Stimmung hätte anstecken lassen, aber das einzige,
was sie heute empfand, war eine bleierne Müdigkeit. Der Tag
war so anstrengend gewesen. Während der Weihnachtsfeiertage
wollten die Leute zu Hause sein, und so waren die meisten
Patienten im Krankenhaus entweder deprimiert oder schwierig.
Ihre trübsinnigen Mienen erinnerten sie lebhaft an ihre eigene
Depression während der letzten zwei Weihnachtsfeste, die sie
beide in der Frauenstrafanstalt Bedford verbracht hatte.
Sie kam an der St. Patrick’s Cathedral vorbei, und nur für
einen Augenblick zögerte sie, als ihr wieder einfiel, wie ihre
Großmutter sie und ihren Bruder Jimmy einmal mitgenommen
hatte, um die Krippe dort anzuschauen. Doch das war nun schon
zwanzig Jahre her; sie war damals zehn gewesen, und er sechs.
Sie verspürte flüchtig den Wunsch, sie könnte wieder in die Zeit
von damals zurückkehren, die Dinge ändern, die schlimmen
Ereignisse rechtzeitig verhindern, sie könnte Jimmy davor
bewahren, zu dem zu werden, was er jetzt war.
Seinen Namen auch nur zu denken reichte schon aus, Wellen
der Furcht durch ihren Körper zu jagen. Lieber Gott, mach, daß
er mich in Ruhe läßt, betete sie. Heute morgen war schon früh
stürmisch gegen ihre Wohnungstür geklopft worden. Als Cally
sie aufmachte, während Gigi sich an sie klammerte, standen
Detective Shore und ein weiterer Polizeibeamter, der sich als
Detective Levy vorstellte, in dem schäbigen Korridor ihres
Apartmenthauses an der Zehnten Straße Ost vor ihr.
»Cally, haben Sie mal wieder Ihrem Bruder Unterschlupf
gewährt?« Shores Augen hatten den Raum hinter ihr nach
Zeichen für seine Anwesenheit abgesucht.
Die Frage war der erste Hinweis für Cally, daß es Jimmy
offenbar gelungen war, aus dem Gefängnis auf Riker’s Island zu
entkommen.
»Die Beschuldigung lautet auf Mordversuch an einem
Gefängniswärter«, sagte der Kriminalbeamte mit von Bitterkeit
erfüllter Stimme. »Der Wachmann ist schwer verletzt, und es ist
fraglich, ob er durchkommt. Ihr Bruder hat ihn angeschossen
und ihm seine Uniform weggenommen. Diesmal werden Sie
erheblich länger als fünfzehn Monate im Gefängnis verbringen,
wenn Sie Jimmy bei der Flucht helfen. Beihilfe nach der Tat im
Wiederholungsfall, wobei wir von einem Mordversuch - oder
Mord - an einem Strafvollzugsbeamten reden. Cally, diesmal
rechnen die gründlich mit Ihnen ab.«
»Ich hab mir nie verziehen, daß ich Jimmy letztes Mal Geld
gegeben habe«, hatte Cally leise gesagt.
»Sicher. Und die Schlüssel zu Ihrem Wagen«, erinnerte er sie.
»Cally, ich warne Sie. Helfen Sie ihm bloß dieses Mal nicht.«
»Tu ich nicht. Darauf können Sie sich verlassen. Und ich
wußte damals nicht, was er angestellt hatte.« Sie hatte dann
beobachtet, wie die Blicke der Männer wieder an ihr vorbei in
Richtung Wohnung wanderten. »Nur zu«, hatte sie geschrien.
»Sehen Sie sich um! Er ist nicht da. Und wenn Sie mein Telefon
anzapfen wollen, dann bitte sehr. Ich will, daß Sie hören, wie ich
Jimmy sage, er soll sich freiwillig stellen. Weil das alles ist, was
ich ihm zu sagen habe.«
Aber Jimmy findet mich doch bestimmt nicht, flehte sie im
stillen, während sie sich ihren Weg durch das Gewimmel von
Kauf- und Schaulustigen bahnte. Nicht dieses Mal. Nach
Absolvierung ihrer Gefängnisstrafe hatte sie sich damals Gigi
wieder aus dem Pflegeheim geholt. Die Sozialarbeiterin hatte
die winzige Wohnung an der Zehnten Straße Ost ausfindig
gemacht und ihr die Stelle als Schwesternhilfe im St. Luke’sRoosevelt Hospital besorgt.
Dies würde seit zwei Jahren ihr erstes Weihnachtsfest mit
Gigi zusammen sein! Wenn sie sich doch nur ein paar
anständige Geschenke für sie hätte leisten können, dachte sie.
Eine
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