Stille Nacht
wie sie ihr damals geglaubt
hatte, als sie Jimmy das Geld und ihr Auto lieh, weil er ihr
weisgemacht hatte, wenn er nicht auf der Stelle die Stadt
verließe, würde ihn ein Kerl aus einer anderen Straßenbande
umbringen.
O Gott, warum hab ich das Portemonnaie nicht einfach dort
liegenlassen? Sie zog in Erwägung, es in den nächsten
Briefkasten zu werfen. Das konnte sie nicht riskieren. Es gab
während der Feiertage im Stadtzentrum zu viele Cops in Zivil.
Wenn nun einer sie sah und fragte, was sie da mache? Nein, sie
würde sofort nach Hause fahren. Aika, die auf Gigi sowie ihre
eigenen Enkel aufpaßte, wenn die Kindertagesstätte zumachte,
würde sie in Kürze heimbringen. Es wurde allmählich spät.
Ich stecke das Portemonnaie einfach in ein Kuvert mit der
Adresse, die ich darin finde, und stecke es später in den
Briefkasten, entschied Cally. Das ist alles, was ich tun kann.
Cally erreichte die Grand Central Station. Wie sie gehofft
hatte, war der Bahnhof überfüllt von Menschen, die in alle
Richtungen zu Zügen und Untergrundbahnen eilten und
schleunigst zum Fest nach Hause wollten. Sie drängte sich durch
die Menge in der Hauptabfahrtshalle und schaffte es schließlich,
über die Treppe den Eingang zu erreichen, der zur
Untergrundbahn der Lexington Avenue führte.
Als sie eine U-Bahn-Münze in den Schlitz steckte und auf die
Expreßbahn zur Vierzehnten Straße zuhastete, bemerkte sie den
kleinen Jungen nicht, der unter einem Drehkreuz
hindurchschlüpfte und ihr hartnäckig auf den Fersen blieb.
2
»O
du fröhliche, o du selige, gnadenbringende
Weihnachtszeit…« Die vertrauten Worte schienen Catherine zu
verhöhnen, weil sie sie an die Kräfte erinnerten, die ihr
ungetrübt behagliches Leben bedrohten, von dem sie
angenommen hatte, es ginge immer so weiter. Ihr Mann lag im
Krankenhaus und hatte Leukämie. Seine angeschwollene Milz
war zur Vorbeugung gegen einen möglichen Riß heute morgen
entfernt worden, und obwohl es zu früh für eine sichere
Prognose war, schien er doch in guter Verfassung zu sein.
Trotzdem konnte sie sich nicht der Angst erwehren, er werde
vielleicht nicht überleben, und die Vorstellung eines Lebens
ohne ihn lähmte sie fast vollkommen.
Weshalb habe ich nicht gemerkt, daß Tom krank wurde?
zermarterte sie sich das Hirn. Sie dachte wieder daran, wie er
vor erst zwei Wochen, als sie ihn gebeten hatte, Einkäufe aus
dem Wagen mit hereinzutragen, nach der schwersten Tüte im
Kofferraum griff, zögerte und dann zusammenzuckte, als er sie
hochhob. Sie hatte ihn ausgelacht. »Gestern spielt er Golf. Heute
markiert er den alten Mann. Du bist mir vielleicht ein Sportler.«
»Wo ist Brian?« fragte Michael, der den Dollar in den Korb
der Sängerin gesteckt hatte und wieder zurück war.
Aus ihren Gedanken aufgeschreckt, blickte Catherine zu
ihrem Sohn hinunter. »Brian?« fragte sie verständnislos. »Er ist
doch hier.« Sie blickte seitlich an sich hinab, und dann suchten
ihre Augen die Umgebung ab. »Er hatte einen Dollar. Ist er denn
nicht mit dir hingegangen, um ihn der Sängerin zu geben?«
»Nein«, erwiderte Michael mürrisch. »Der hat ihn
wahrscheinlich behalten. Ist doch ein Blödmann.«
»Laß das«, sagte Catherine. Sie sah sich um, urplötzlich in
Aufregung versetzt. »Brian«, rief sie, »Brian!« Das
Weihnachtslied war vorbei, die Menschenmenge löste sich auf.
Wo war Brian? Er würde keinesfalls einfach weglaufen. »Brian«, rief sie wieder, diesmal in voller Lautstärke und
unverkennbar beunruhigt.
Einige Leute drehten sich um und musterten sie neugierig.
»Ein kleiner Junge«, erklärte sie und bekam nun wirklich Angst.
»Er trägt einen dunkelblauen Skianorak und eine rote Mütze.
Hat irgend jemand gesehen, wo er hin ist?«
Sie sah, wie Köpfe geschüttelt wurden, Augen durch die
Gegend schweiften, Leute helfen wollten. Eine Frau deutete
nach hinten auf die Schlangen der Menschen, die sich die Sak’sSchaufenster ansehen wollten. »Vielleicht ist er ja da rüber?«
sagte sie mit einem starken Akzent.
»Wie steht’s mit dem Baum? Könnte er nicht über die Straße
gelaufen sein, um ganz nah ranzukommen?« schlug eine andere
Frau vor.
»Vielleicht die Kirche«, steuerte jemand anders bei.
»Nein. Nein, Brian würde das nicht tun. Wir besuchen
nachher seinen Vater. Brian kann es gar nicht abwarten, ihn zu
sehen.« Noch während sie die Worte aussprach, wußte
Catherine, daß etwas ganz schrecklich faul war.
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