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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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gegossen und sich Hände und Gesicht gewaschen. Dann hatte er tief Luft geholt, um sich innerlich auf die schwerste Aufgabe des Morgens vorzubereiten, die darin bestand, zum ersten Mal seine Schuluniform anzuziehen.
    Bei jedem neuen Kleidungsstück war sein Unbehagen gewachsen: die lange schwarze, kratzige Hose; das weiße Hemd mit dem breiten, steifen Kragen; die Weste; die knifflig zu bindende schwarze Krawatte, die so starr war wie ein schmaler Streifen Karton; sein Eton-Blazer, der so kurz war, dass man sich das Hinterteil abfror, und – das Lächerlichste überhaupt – ein hoher Zylinderhut. Für einen Jungen wie James, der gewöhnt war, schlichte, bequeme Kleidung zu tragen, war das die reinste Tortur. Er kam sich fehl am Platz und verkleidet vor, so als sei er auf dem Weg zu einem Kostümfest. Das waren keine Kleider – das war nur ein weiterer Teil dieser völlig unwirklichen Welt. Während er die Schnürsenkel seiner schweren schwarzen Schuhe zuband, fluchte James laut. Er hasste Schnürsenkel.
    Fertig angezogen, war er die Treppen hinabgeeilt. Er hatte eigentlich erwartet, in der Halle auf seine Mitschüler zu treffen, aber niemand war zu sehen. Das Haus war totenstill. Nervös schaute er auf die Uhr. Es war zehn nach sieben. Man hatte ihm gesagt, dass die Morgenschule um halb acht anfing, wo also waren die anderen abgeblieben?
    Er warf einen Blick in den Speisesaal: leer. Vielleicht hatten sie ihn nur necken wollen? Vielleicht spielte man Neuankömmlingen immer so einen Streich? Er trat hinaus vor die Tür: Keine Menschenseele war zu sehen. Er ging wieder hinein und beobachtete, wie der Minutenzeiger der Uhr unendlich langsam vorrückte. Viertel nach … zwanzig nach …
    Gerade wollte er die Treppe hinaufgehen und sich auf die Suche nach Pritpal machen, als er ein donnerndes Geräusch hörte. Es war wie das Dröhnen einer Lawine. Eine Horde Jungen trampelte die Stufen herab, an ihm vorbei in den Speisesaal. Dort stopften sich die Schüler trockene Milchbrötchen in den Mund und tranken mit hastigen Schlucken Kakao, bevor sie wie eine wild gewordene Herde weiterrasten.
    James stand da, strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht und überlegte fieberhaft, was er Mr Codrose, der zu ihm getreten war, sagen sollte.
    »Haben Sie mich denn nicht gehört?«, fragte der finster dreinblickende, kleine Mann und fuhr sich über den Bart. Es klang wie das Schleifen von Sandpapier. »Beeilen Sie sich, sonst kommen Sie zu spät in die Morgenschule.« Dann stolzierte er davon. Eine Gruppe von Schülern stob auseinander, um ihm Platz zu machen.
    »Ja, Sir, danke, Sir«, rief James ihm nach.
    Der Schülerstrom ergoss sich nach draußen in die engen Gassen und James folgte ihm, auch wenn er nicht so recht wusste, wohin er eigentlich gehen sollte. Er bemühte sich mit den anderen Schritt zu halten und kam sich dabei vor wie in einem Traum, in dem seltsame Regeln galten. Er lief mit den anderen mit und konnte nur hoffen, dass es die richtige Richtung war. Als er Pritpal bemerkte, war seine Erleichterung groß. Sofort rannte er zu ihm.
    »Soeben hast du deine erste Lektion in Eton gelernt, James«, sagte Pritpal laut schnaufend. »Steh niemals vor Viertel nach sieben auf.«
    James lachte. »Ob ich das alles je richtig begreifen werde?«
    »Aber sicher. Mach dir keine unnötigen Gedanken. Komm lieber mit. Ich zeige dir deinen Unterrichtsraum.«
    »Danke.«
    »Wie war deine alte Schule denn so?«, fragte Pritpal. »Jede Wette, dass sie viel kleiner war als Eton.«
    »Das stimmt«, sagte James. »Sehr viel kleiner.« Und dann erklärte er Pritpal, dass er von seiner Tante zu Hause unterrichtet worden war.
    »Das klingt nach jeder Menge Spaß.«
    »Zumindest war es völlig anders als hier.«
    Pritpal lachte. »Stell dir vor, wie es für mich gewesen ist, als ich aus Indien hierher kam. In England ist es so kalt und die Sonne ist so trüb. Und dann erst das Essen! Mein Gott! Ihr Engländer seid richtige Barbaren. Achtung …!«
    »Was?«
    Aber es war schon zu spät. James war um die Ecke gebogen und hatte dabei zwei Jungen angerempelt.
    »Pass auf, wo du hintrittst, Grünschnabel«, sagte einer von ihnen hämisch. Es war ein hoch aufgeschossener Junge mit einem großen, eckigen Kopf, störrischen Haaren und einer Lücke zwischen den Vorderzähnen.
    »Tut mir Leid.«
    »Das reicht nicht«, sagte der zweite Junge, der augenscheinlich einige Jahre älter war als James. »Du kannst nicht einfach andere Leute

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