Sprengkraft
1.
Als Abderrafi Diouri seinen Wagen abschloss, fiel sein Blick auf die schöne Tasnim, die keine dreißig Meter entfernt aus dem Bus stieg. Er wusste, dass es kein Zufall war, sondern Schicksal – gerade noch hatte er an sie gedacht.
Die Siebzehnjährige trug eine knallgelbe Tasche an einem Riemen über der Schulter und schlenderte die Straße entlang.
Kein Blick zu ihm herüber. Und keinen Hijab – sie trug ihr Haar schamlos zur Schau.
Rafi rieb die vernarbte Stelle an seiner linken Hand und überlegte, woher Tasnim wohl kam. Hatte die Schule heute länger gedauert?
Im letzten Herbst war ihm das Mädchen zum ersten Mal als Frau aufgefallen – und seitdem nicht aus dem Sinn gewichen. Aber er hatte keine Ahnung, wie er sie am besten ansprechen sollte.
Es war nicht so, dass Rafi mit seinen neunzehn Jahren keine Erfahrung mit dem anderen Geschlecht besaß, denn Noureddine, sein älterer Bruder, hatte ihn etliche Male mitgenommen, wenn er Weiber in Düsseldorfs Discos aufriss oder Nutten im Puff besuchte. Schampus, Koks und jede Menge Geld waren im Spiel gewesen – als Boss im hiesigen Bisnes, wie sie ihr Geschäft nannten, hatte Noureddine alles auf Lager gehabt, womit man diese Schlampen herumkriegte.
Aber das gab es nicht mehr.
Und Tasnim war keine Schlampe.
Noch nicht.
Rafi unterdrückte den Impuls, ihr hinterherzulaufen. Beim letzten Mal war es nicht gut ausgegangen. Sie hatte ihn vor allen Passanten zurechtgewiesen, ohne dass ihm eine treffende Erwiderung eingefallen war.
Tasnim hatte ihn angegiftet, er solle sie in Ruhe lassen – als verfolge und belästige er sie. Und ihre Freundin, eine Ungläubige, hatte ihn einen stinkenden Sardinenhändler genannt. In Rafis Ohren klang das Gelächter der beiden Mädchen nach.
Er schnupperte verstohlen an seinen Fingern: Nein, sie rochen nur nach Seife.
Vielleicht sollte er mit Tasnims Bruder reden.
Rafi ärgerte sich, dass ihn der Gedanke an diese Frau so plagte, obwohl er längst wusste, dass das irdische Leben nicht zählte. Nicht Partys, nicht Alkohol, sondern ausschließlich Allahs Wort und das Beispiel des Propheten.
Der Glaube ist alles, dachte Rafi. Das Leben kotzte ihn an.
Mittwoch, 4. März, Blitz, Seite eins:
Acht Tote bei Brand in Mainzer Mehrfamilienhaus Menschen springen in Panik aus dem Fenster, werfen ein Kleinkind aus dem zweiten Stockwerk, das Polizisten gerade noch auffangen können. Beißender Qualm liegt über dem Viertel. Herzzerreißende Schreie, dann geht die Feuerwalze durch das ganze Haus.
Die Bilanz des verheerenden Brandes in Mainz: acht Tote, darunter fünf Kinder, mehr als fünfzig verletzte Menschen. Das Haus wurde vor allem von Türken bewohnt. Die Brandursache ist noch unbekannt, eine 50-köpfige Sonderkommission hat die Ermittlungen aufgenommen.
Ministerpräsident Kurt Beck erklärte, er sehe keine Hinweise auf ein Verschulden Dritter. Damit lasse sich ein fremdenfeindlicher Anschlag ausschließen.
Donnerstag, 5. März, Kölner Kurier, Seite sieben:
Ehrenfelder CDU gegen Zentralmoschee Im Streit um die geplante Zentralmoschee im Kölner Stadtteil Ehrenfeld spricht sich nun auch die Ehrenfelder CDU für eine »deutliche Verkleinerung« des Bauvorhabens aus und stellt sich damit gegen einen Beschluss der Kölner Parteispitze.
Die bisherige Planung von Bauherr und Stadtverwaltung sieht ein fünfstöckiges, von einer Kuppel gekröntes Gebäude vor, das zweitausend Gläubigen Platz bieten und darüber hinaus ein Geschäftszentrum mit 35 Ladenlokalen beherbergen soll. Bauherr und alleiniger Geldgeber ist die türkisch-staatliche DITIB-Organisation.
Bundesweit in die Schlagzeilen geriet das Projekt durch die Kritik des prominenten Schriftstellers Konrad Rolfes, die Moschee symbolisiere eine »Landnahme durch einen integrationsfeindlichen Islam«.
2.
Sie schleppten den Heimtrainer die Stufen hoch. Irgendwas an dem alten Ding klapperte. Rafi fragte sich, warum es so viel schwerer war als ein richtiges Fahrrad. Noch eine Treppe bis zum vierten Stock. Einen Aufzug hatte das Haus im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk natürlich nicht.
»Hätte nicht gedacht, dass das Teil in deinen Kofferraum passt«, ächzte Said Boussoufa. »Hast ein klasse Auto, Bruder Rafi.«
»Von Noureddine geerbt.«
»Verstehe.«
Rafi war klar, dass sein Freund Said das Bisnes und die Lebensweise, die Noureddine geführt hatte, missbilligte. Aber Rafi hatte sich nach dem Tod seines älteren Bruders verändert und Said
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