Stille Wasser sind toedlich
stieß gegen seinen Mund und grub die Zähne in seine Lippen. Der Junge schleuderte ihn von sich. Sein Zorn verlieh ihm neue Kraft. Er streckte die Füße aus und fand tatsächlich Halt auf dem Grund des Sees. Und dann war sein Kopf wieder über dem Wasser. Überall um ihn herum tanzten wild gewordene Aale.
»Hilfe, Hilfe … Bitte! Warum hilft mir denn niemand?« Sein Mund tat weh und Blut tropfte von der Lippe, wo der Aal ihn gebissen hatte. Er ruderte mit den Armen, aber nichts konnte die Aale abschrecken.
Da sah er aus den Augenwinkeln eine Gestalt. Es war ein Mann und er rannte am Ufer entlang. Der Junge hob den Arm, winkte und schrie erneut um Hilfe. Ihm war egal, ob es einer der Wachleute vom Schloss war … alles war besser als diese widerlichen Kreaturen im See.
Der Mann rannte weiter und hechtete schließlich ins Wasser.
Nein!, wollte der Junge rufen. Nicht in den See. Nicht zu den Aalen. Gleich darauf sah er den Kopf auftauchen. Es war alles in Ordnung. Die Rettung war nahe.
Mit kräftigen Zügen schwamm der Mann auf ihn zu. Gott sei Dank. Gott sei Dank. Er würde gerettet werden. Man würde ihn hier rausholen. Für einen Moment vergaß der Junge sogar die Aale und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf den Schwimmer, der stetig näher kam. Doch dann brachte ihn eine neue Attacke aus dem Gleichgewicht.
Nein. Nein, er würde nicht aufgeben. Er ruderte mit den Armen, stieß mit den Beinen – und plötzlich war er wieder an der Wasseroberfläche. Aber wo war der Mann? Er konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben? Verzweifelt schaute der Junge sich um. Hatten die Aale den Mann überwältigt?
Alles war ruhig. Die Bewegungen im Wasser schienen aufgehört zu haben, so als sei nichts von all dem wirklich passiert …
Da entdeckte er ihn, unter Wasser – einen großen dunklen Schatten zwischen den Fischen. Im selben Augenblick schoss die Gestalt wie ein Pfeil aus dem See empor. Der Junge schrie laut auf.
Das Letzte, was er sah, bevor er in die dunkle Tiefe sank, war das Gesicht des Mannes. Nur dass es gar nicht das Gesicht eines Mannes war … Es war das Gesicht eines Aals. Ein Gesicht wie aus einem Alptraum: kinnlos, glatt, grau, die Haut straff und völlig unbehaart, dicke, wulstige Lippen, die fast bis zu der Stelle reichten, wo eigentlich die Ohren sein sollten. Es war ein grässlich verzerrtes Gesicht, lang gezogen, mit einer platt gedrückten Nase und breiten Nasenlöchern. Die hervorquellenden Augen standen so weit auseinander, dass sie in keiner Weise mehr menschlich aussahen.
Da öffneten sich die scheußlichen, dicken Lippen und hervor kam ein unverständliches, blubberndes Zischen. Und dann schloss sich das Wasser über dem Jungen und er verlor das Bewusstsein.
TEIL 1
ETON
Der neue Schüler
D er Geruch, der Lärm und das Durcheinander in einer Eingangshalle voller Schuljungen um zwanzig nach sieben am frühen Morgen kann ziemlich unangenehm sein. Am schlimmsten war der Geruch; dieser wirren Menschenmenge entströmte so etwas wie ein Gemisch aus Schweiß, saurem Atem und dem Dunst ungewaschener Körper, vermischt mit dem zweihundert Jahre alten Geruch nach Karbol und Fußbodenpolitur.
Fast alle Schüler nahmen das überhaupt nicht wahr, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt waren. Mit einer Ausnahme. Während alle anderen aufgescheucht umherrannten und sich gegenseitig anrempelten, stand ein Junge ganz allein in der Mitte der aufgeregten Schülerschar und wünschte sich weit weg. So viele Menschen war er einfach nicht gewöhnt.
Der Neuankömmling war schlank und für sein Alter sehr groß. Er hatte blasse blaugraue Augen und schwarze Haare, die er offensichtlich zu bändigen versucht hatte – was jedoch wie üblich fehlgeschlagen war. Eine Strähne fiel über sein rechtes Auge herab wie ein schwarzes Komma.
Wenige Augenblicke zuvor war die Eingangshalle noch leer gewesen und der Junge hatte sich schon gefragt, wo denn all die anderen waren … Doch jetzt quoll sie über vor lärmender Schüler, die die Treppe hinab- und in den Speisesaal strömten.
»Heda!«, dröhnte eine Stimme. Der Junge drehte sich um.
Ein Mann stand da und starrte ihn an. Er war klein, kleiner sogar als einige der Schüler, wirkte aber wichtigtuerisch.
»Ja, Sir?«
»Name?«
»Bond. James Bond.«
»James Bond – Sir. «
»Ja, tut mir Leid, Sir.«
Der Mann starrte ihn durchdringend an. Er war hager, blass und hatte tief in den Höhlen liegende, blau geränderte Augen, struppiges
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