Stiller
nur wenn ihm Wein aufstieß, murmelte er: »Entschuldigung.« – »Du machst wirklich, Stiller, bis es eines Tages zu spät ist!« sagte ich. »Sie liegt in der Klinik, und du haderst weiter?« Er brütete vor sich hin, bis ich seinen Ellbogen faßte und ihn rüttelte. »Ich weiß«, sagte er, »daß ich lächerlich bin.« – »Du bist weit, Stiller, du mußt dich nicht selber lächerlich machen. Was du vorher gesagt hast, das glaubst du ja selber nicht. Wer stirbt schon einem andern zuliebe oder zuleide! Du überschätzest deine Wichtigkeit, ich meine: deine Wichtigkeit für sie. Sie braucht dich nicht, wie du gebraucht sein möchtest ... Stiller?« rief ich ihn, da er abermals, Betrunkenheit vorschützend, in sich selbst versinken wollte, »warum hast du plötzlich Angst, daß sie stirbt?« – »Ich überschätze meine Wichtigkeit?« – »Ja«, meinte ich, »diese Frau hat dich nie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Nur du hast so etwas aus ihr gemacht, glaube ich, von allem Anfang an. Du als ihr Erlöser, ich sagte es schon, du wolltest es sein, der ihr das Leben gibt und die Freude. Du! In diesem Sinn hast du sie geliebt, gewiß, bis zum eignen Verbluten. Sie als dein Geschöpf. Und jetzt diese Angst, sie könnte dir sterben! Sie ist nicht geworden, was du dir erwartet hast. Ein unvollendetes Lebenswerk! ...« Stiller war zum Fenster gegangen und öffnete es. »Dir ist schlecht?« fragte ich, »warum setzest du dich nicht?« Er zeigte mir den Rücken, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirne. »Sprich nur weiter«, bat er. »Ich hole dir Wasser«, sagte ich und legte den Feuerhaken hin, um aufzustehen. »Hat sie dir viele Briefe geschrieben?« Ich antwortete: »Einen einzigen. Warum?« Er wischte sich wieder die Stirne. »Ist ja egal«, brach er ab. »Ich bilde mir nicht ein, Stiller, daß ich deine Frau verstehe, besser verstehe als du. Wir sind uns recht fremd, deine Frau und ich, und was haben wir schon zusammen gesprochen? Ihr Brief war übrigens sehr kurz.« Er nickte traurig: »Du verstehst sie. Doch, doch. Ein Glück für sie.« Und dann: »Mir ist miserabel, du mußt entschuldigen.« Trotzdem ging Stiller nicht hinaus, um sich zu erleichtern, wie ich eigentlich erwartete. Er war wie Wachs, und sooft man seine Augen sah, wußte man, daß es für ihn eigentlich nur eine einzige Frage gab: Wird sie sterben? Er strengte sich an, anderes zu denken. Insofern war er froh, daß jemand redete. »Du hast doch etwas sagen wollen?« fragte er. Ich erinnerte mich aber nicht mehr, wo unserGespräch unterbrochen worden war. Ich sagte nun irgend etwas: »Übrigens ... ich habe deine Papiere gelesen.« – »Verbrenne sie!« – »Was versprichst du dir vom Verbrennen?« entgegnete ich. »Deswegen hast du sie doch geschrieben ... Du hast um diese Frau gerungen, wie man so sagt. Ich verstehe sie vielleicht in einem einzigen Punkt. Wer kommt denn auf die Idee, seinen Erlöser zu fragen, wie’s ihm selbst geht? Sie hat sich daran gewöhnt, siehst du, in so vielen Jahren daran gewöhnt, daß du kein armer und schwacher Mensch sein willst, sondern ihr Erlöser.« Stiller lächelte: »Warum sagst du’s nicht rundheraus?« Ich verstand ihn nicht, sein vages Lächeln schon gar nicht. Als ich ihn anblickte, schlotterte er an allen Gliedern; ein Schüttelfrost. »Es ist nichts«, sagte er, »nur diese idiotische Trinkerei!« Daraufhin führte ich ihn zu dem einzigen Sessel mit hoher Rückenlehne, wo er den Kopf zurücklegen konnte, und schloß das Fenster. »Ist es nicht besser«, fragte ich, »wenn ich dich zu Bett bringe?« Er schüttelte den Kopf. Ich legte den Buchenklotz in die Glut. »Was«, fragte er unter den Händen, die sein Gesicht stützten, »was soll ich tun? Ich kann nicht noch einmal auf die Welt kommen. Rolf, ich will’s auch nicht ... Was ist meine Schuld? Sag’s mir. Ich weiß es nicht. Was habe ich getan? Sag’s mir, ich bin ein Idiot. Sag’s mir!« – »Ich habe deine Papiere gelesen«, wiederholte ich, »darin weißt du doch ziemlich viel.« Er hatte seine Hände vom Gesicht genommen. »Wenn es mit Wissen getan wäre!« sagte er, saß lange wortlos mit hangenden Händen, die Ellbogen auf seine Knie gestützt. »Erinnerst du dich an vorigen Herbst«, fragte er, »an unseren Abend zu dritt? Nichts Besonderes. Aber es ging. Fand ich. Für mich war’s ein Fest ... In diesem ganzen Winter haben wir es nie wieder zu einem solchen Abend gebracht, sie und ich. Dann sitzen wir hier, sie dort, ich hier.
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