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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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ausgezeichnet ging. Unsere Spielerei faszinierte uns tatsächlich. Mit der Zeit drängte unsere Dame denn doch zum Weiterspazieren. Der Spätnachmittag, obzwar genau so wolkenlos, schien plötzlich einem ganz anderen Tag anzugehören als der Morgen. Ich hatte das Gefühl, der Morgen liege um Jahre zurück. Auf unserem Rückweg redete Stiller ausschließlich von Frau Julika. Eine Reue über ihre Kinderlosigkeit habe ich von ihr nie vernommen; Stiller war überzeugt von einer solchen Reue bei ihr, machte diese Reue zu seiner eigenen, oder umgekehrt. Er redete ohne Vorwurf, ohne Selbstvorwurf. Es hätte wohl nicht anders sein können, meinte er, aber es hatte das volle Gewicht einer richtigen Reue. Endlich schloß er, da wir vor dem Funiculaire standen, mit der Bemerkung: »Es ist schade, daß ihr Julika nie wirklich habt kennenlernen können!« Meine Entgegnung, da sei ja alles noch möglich, schien Stiller über sich selbst erschrecken zu lassen.
    Von der Visite an jenem Ostersonntagabend kam Stiller sehr bald zurück. Es gehe ihr sehr ordentlich! meldete er. Der Arzt hatte ihn gebeten, von einem Besuch abzusehen. »Ich darf morgen wiederkommen«, sagte Stiller und zerstreute unsere heimlichen Besorgnisse sofort, »es geht ihr sehr ordentlich, aber sie braucht noch vollkommene Ruhe.« Wir verstanden es alle, und Stiller war sehr zuversichtlich, es hinderte ihn nichts, die oft schon versprochene Raclette herzurichten, also einen geselligen und gemütlichen Abend in Szene zu setzen, ein Kaminfeuer zu machen, Weißwein kaltzustellen und drei Spieße zu schnitzen, um den Käse über dem Feuer drehen zu können. Natürlich war es kein bäurischer Rauchfang wie auf seiner Skizze, vielmehr ein verzierter Kamin aus falschem Marmor und ebenso falschem Jugendstil. Unsere Raclette gelang wenigstens nach deutschschweizerischen Begriffen ganz großartig; wir hatten Hunger von unserer Wanderung. Stiller trank an jenem Abend sehr viel. Bei jedem Anzeichen von Aufbruch entkorkte er eine nächste Flasche, und so ging es bei mäßigem Gespräch bis elf Uhr. Betrunken war er nicht. Er trank hastig mit kleinen Schlücken aus den schlanken waadtländischenWeißweingläschen, blieb wacher als wir. Man sah ihm an, daß er dennoch nicht zuhörte. Seine Augen schienen dem Weinen nahe. Auch wenn ich von Frau Julika zu sprechen versuchte, hörte er nicht. Es war mühsam. Möglicherweise hätte er unter vier Augen etwas sagen wollen, gleichviel ob meiner Frau oder mir. Wir saßen aber zu dritt, hilflos auch unsererseits, etwas schäbig nur auf eine Aufmunterung bedacht. Stiller lieferte sie dann selber, besser als wir. Wir verabschiedeten uns nach einer halben Stunde verhältnismäßiger Geselligkeit, stiegen in unser Turmzimmer; Stiller blieb in der Diele unten stehen – genau wie bei seinen nächtlichen Anrufen, nämlich zum Schluß einfach grußlos auch auf unser wiederholtes »Gutnacht«; ich empfand es bereits als üble Manier, eine sentimentale Art der Nötigung, seine wortlose Warterei, bis ich meinerseits, sei es durch Aufhängen des Hörers oder durch Schließen meiner Türe, abbrach ... Meine Frau und ich konnten trotz Müdigkeit nicht schlafen.
    Etwa gegen ein Uhr ging ich nochmals hinaus. In der Diele war das Licht gelöscht, nicht aber im Wohnzimmer, und ich ging hinunter, so wie ich gerade war, im Pyjama und barfuß, also fast lautlos. Unser Freund saß vor dem feuerlosen Kamin und schien eingeschlafen zu sein. Ich ging hin, um ihn mit irgend etwas zuzudecken. Aber seine Augen waren offen. »Wieso schläfst du nicht?« sagte er, und seine Zunge lallte. Stiller war nun sehr betrunken. »Es hat keinen Sinn«, meinte ich, »daß du da weitertrinkst ...« Er füllte abermals sein Glas, wie zum Trotz, und musterte mich. Ich redete nun allerlei vernünftiges Zeug. Stiller leerte sein Glas, und als er sich erhob, wankte er sichtlich. »Kindisch«, sagte er, »ich habe zuviel getrunken, ich weiß, das ist geschmacklos, ekelhaft, kindisch ...« Er schüttelte den Kopf, blickte sich um, als hätte er etwas verloren, und hielt sich an der Lehne eines Sessels. »Wird sie sterben?« fragte er, ohne mich anzublicken. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber er hörte mich überhaupt nicht; er hatte den Feuerhaken ergriffen und wußte nicht, was damit anfangen. Seine Augen schwammen in Tränen, die mir wenig Eindruck machten in Anbetracht seiner Betrunkenheit. »Komm«, sagte ich, »gehn wir zu Bett!« Er blickte mich an. »Gestern mittag«, begann

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