Stiller
dann, das mit der Zeit alles überflutet, ein Tosen von Stimmen, halb Zorn und halb Jauchzen, ein gewaltiger Gesang, der wieder versinkt und verrinnt, ohne wirklich aufzuhören, ein endloser Strom von Sehnsucht, breit wie der Mississippi, eine Männerstimme tönt noch einmal wie eine helle Fanfare darüber hinaus, laut und einsam hart, selig in Hoffnung, dann bleibt das seltsame Schwirren, das stimmlose Summen wie über einem glühenden Sommerfeld, die Hitze im Saal, der tanzende Staub in der Sonne, die durch den zerrissenen Store blendet, der Geruch von Gasoline und Schweiß und Parfüm.
Nach drei Wochen verschwand Joe.
Wieder hörte ich das Geklapper der Stöckelschuhe, Florence war da, wenn auch vermählt, und sie rief sogar zu meinem Fenster hinauf, ich sauste die steile Treppe hinunter, wunderbarerweise ohne zu stolpern, wennschon ich den Geländerpfosten ausriß, und hinaus an den Teertonnenzaun, wo Florence schon jenseits der Brombeeren stand.
»What about your cat?« fragte sie.
Sie hatte das Biest sogar auf ihrem Arm.
»D’you know she’s hurt?« sagte sie, »awfully hurt!«
Das war die Wunde an der Schnauze.
»And you don’t feel any pity for her?« sagte sie, »you are cruel, you don’t love her.«
Und damit bot sie mir das Biest herüber.
»You should love her!«
»Why should I?«
»Of course, you should!«
Das war mein Verhältnis zu der Mulattin namens Florence, und heute noch, wenn ich Stöckelschuhe höre, denke ich an Florence; leider fällt mir dabei auch immer die Katze ein.
Julika hat ihre Paris-Reise verschoben, damit unser Kaution-Nachmittag nicht verlorengeht und weil es eine Sünde wäre, sagt sie, einen so goldigen Oktobertag nicht zu nutzen.
Kein Wort mehr von ihrer alten Ehe!
Irgendwie beunruhigt es mich.
Smyrnow war ein sowjetischer Agent auf Durchreise in der Schweiz. Signalement unbekannt. Hingegen scheint die schweizerische Bundespolizei zu wissen, daß dieser Smyrnow, der Chef genannt, die Ermordung eines beliebten Exkommunisten vorzubereiten hatte, der damals noch in der Schweiz weilte. Helfer und Helfershelfer figurierten wie üblich unter Decknamen; einer hieß ›der Ungar‹, ein anderer hieß ›der Schweizer‹, welch letzterer eben mit diesem Smyrnow in Zürich am 18. 1. 1946 verhandelt haben soll, möglicherweise auch verbotenen Nachrichtendienst betrieben haben könnte. Kurz nach dem fraglichen Datum meldete die Stadtpolizei Zürich das mysteriöse Verschwinden Stillers. Seither scheint Stiller so etwas wie eine Hoffnung der schweizerischen Bundespolizei zu sein. Hat dieser Stiller nicht einmal gegen Franco gekämpft? Und da Antifaschismus zwar eine Zeitlang als schweizerische Tugend galt, heute aber genügt, um als Höriger der Sowjets verdächtigt zu werden –
Was geht’s mich an!
PS.
Gegenüber der Tatsache, daß die Schweiz nicht nur ein kleines Land ist, sondern durch den Lauf der Welt immer noch kleiner wird, hat mein Verteidiger überhaupt keinen Humor. Das macht unsere Unterhaltungen oft schwierig. Er ist (begreiflicherweise) gegen die Zukunft. Jede Verwandlung ängstigt ihn. Er verspricht sich mehr von der Vergangenheit; dabei weiß er sehr wohl, daß nicht die Vergangenheit kommt, sondern die Zukunft, und das macht ihn gegenüber der Zukunft nur noch unwilliger. Wieweit mein Verteidiger darin ein Vertreter des landläufigen Geistes ist, weiß ich nicht. Er fühlt sich stets, auch wenn es mir gar nicht drum ist, irgendwie angegriffen, was dann zu schweren Selbstgefälligkeiten führt.
»Die Größe eines Landes«, sagt er, »das ist nicht als Fläche zu messen und nicht als Einwohnerzahl; die Größe unseres Landes ist die Größe seines Geistes.«
Das ist richtig, und was mich zum Widerspruch reizt, ist nur die selbstgefällig-fraglose Annahme, daß es ja den Schweizern jedenfalls nicht an Größe des Geistes fehle. Ich werde ausfällig, man kann den Selbstgerechtennicht gerecht werden, ich frage nach den Manifestationen dieser Geistesgröße, verbeuge mich vor einem Schwarm historischer Persönlichkeiten, den mein Verteidiger dann jedesmal auf mich losläßt; indessen habe ich ja nicht nach historischen, sondern ausfälligerweise nach heutigen Manifestationen einer schweizerischen Geistesgröße gefragt. Darauf wird mein Verteidiger geradezu persönlich.
»Ihr Haß gegen die Schweiz ist krankhaft!«
»Wieso Haß?«
»Sie wollen mir nur vormachen, daß Sie kein Schweizer sind und somit nicht Stiller«, sagt er,
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