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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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kein Modell aus dem vorletzten Jahr; der trug auch eine Hornbrille. Es war sehr heiß. Über die erste Begrüßung hinaus, schien es, hatte die Sippe sich wenig zu sagen. Der US-Army-Sergeant stand auch so herum. Sogar die kleinen Knirpse mit ihrem Kruselhaar und ihren großen Augen im Kopf, die Buben in weißen Hemden, die Mädchen mit bunten Bändern an ihren kurzen Zöpfchen, alle verhielten sich so brav und musterhaft. Die Erwachsenen setzten sich, verschränkten die Beine; einige rauchten Zigarren. Neben einigen Damen, die der Farbe nach schon keine Negerinnen mehr waren, als Negerinnen bloß noch erkennbar an der Plastik ihres Gesichtes, an den Zähnen auch, an den unwahrscheinlich schlanken Fesseln, vor allem jedoch an der tierhaften Grazie ihrer Bewegungen – nie bewegt sich dieHand, ohne daß die Bewegung aus dem Arm fließt, und nie dreht sich der Kopf, ohne daß die Bewegung aus dem Rücken aufsteigt, sich ausstrahlt in die Schultern; ob langsam oder geschwind, immer ist es vollkommene Bewegung, unbewußt und ohne Gezappel, ohne Erstarrungen in einem anderen Teil des Körpers, sie fließt oder schnellt oder ruht, immer stimmt sie mit sich selbst überein – kurzum, neben Mädchen wie Florence, die das Kruselhaar schon überwunden haben, standen in dieser Sippe auch andere, Afrikaner mit grau-schwarzer Haut und grau-violetten Lippen, mit Händen wie Boxhandschuhe, Väter, die ihren entkruselten Töchtern gar peinlich waren. Der mit dem neuen Nash gab wohl den Ton an; es war sehr heiß, wie gesagt, aber keiner hätte seinen schwarzen Rock ausgezogen, und das Langweilig-Konventionelle, das Umherstehen mit Zigarren und Redensarten, die Artigkeit der zahlreichen Kinder, die mich an Dressurnummern im Zirkus erinnerte, die Steifheit verwandtschaftlicher Freundlichkeiten, das Ereignislose im übrigen, das Unfreie und eine freudlose Bemühtheit und die unterschiedliche Könnerschaft in der familiären Demonstration, daß man sich auf feines Benehmen versteht, diese vollkommene Karikatur einer weißen Kleinbürgerlichkeit, die von Afrika keine blasse Ahnung hat, das war für sie just das Ereignis, glaube ich; jetzt benahmen sie sich wirklich wie Weiße. Als es bei mir klingelte und der Dockarbeiter-Vater mich zur Bowle einlud, ging ich hinüber, versteht sich, nicht ohne ebenfalls ein weißes Hemd und das Dunkelste an Jacke angezogen zu haben. Alle sagten: Nice to see you! und im näheren Gespräch: How do you like America? Der US-Army-Sergeant mit den schmalen Lenden eines Löwen und mit den Schultern eines Michelangelo-Sklaven, erfuhr ich, war nur auf Urlaub hier, sonst in Frankfurt, damit die Russen nicht zu nahe an Amerika herankommen; ich fragte zurück: How do you like Frankfurt? und aus seiner beflissenen Lobpreisung merkte ich, daß er uns Europäer allesamt in einen Topf wirft. Dann aber, endlich, kam meine herrliche Florence hinzu, gab mir ein Glas Bowle und sagte:
    »This is Joe, my husband –!«
    Ich gratulierte.
    »And what about your cat?«
    Sie hatten sich an jenem Sonntag vermählt, und Joe blieb noch drei volle Wochen auf Urlaub, will sagen, drei weitere Wochen war Florence nicht im Hause ihres Vaters zu sehen ... Verliebt, wie ich war, konnte ich diese Wochen nicht hingehen lassen, ohne Florence wenigstens im Gottesdienst zusehen; nämlich ich wußte jetzt, welcher Kirche sie angehörte. Sie nannte sich Second Olivet Baptist Church und stellte sich als eine Baracke dar, die von anderen Lagerschuppen kaum zu unterscheiden war, jedoch mit einer Fassade aus hölzerner Gotik, etwa aus den zwanziger Jahren, schätze ich, unseres Jahrhunderts. Auf der Bühne drinnen, links und rechts vom Mikrophon, hingen zwei große Flaggen, die amerikanische und eine weiße, und im übrigen, ausgenommen noch ein schwarzes Klavier, war es kahl wie in einer Turnhalle. Die große Gemeinde murmelte seltsam, und ganz vorne stand ein Neger im hellen Sonntagsanzug, Fragen sprechend, die jedesmal das Wort ›Sünde‹ enthielten, die Leute nickten, einzelne riefen: O yes, my Lord, o yes! Die Fragen, im gelassenen Alltagston begonnen, wiederholten sich mit geringen Veränderungen, tönten dabei, ohne daß die Stimme lauter wurde, von Wiederholung zu Wiederholung immer dringender. Irgendwo rief eine junge Frau: I know, my Lord, I know! Die meisten murmelten, einige blickten teilnahmslos in die Luft, die Frau aber schrie hellauf und begann ganze Sätze zu rufen, zu stöhnen, man glaubte ihr zu Hilfe kommen zu müssen. Der

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