Stiller
Halbrusse und sehr sensibel, ein Herr zwischen vierzig und fünfzig, unverheiratet, begabt – und Julika ist froh um diese Seele von einem Menschen, sagt sie und nennt ihn einfach ihre Stütze in Paris. Mehr sagt sie nicht von ihm. Vielleicht hätte ich doch nicht fragen sollen. Vielleicht hält Julika mich jetzt für eifersüchtig.
Mein Freund und Staatsanwalt fragt, ob ich Anna Karenina kenne. Dann: ob ich Effi Briest kenne. Endlich: ob ich mir nicht auch ein anderes Verhalten, als es in diesen Meisterwerken geschildert wird, seitens des verlassenen Ehemannes vorstellen könnte. Ein großzügigeres, meint er – und kommt ins Erzählen ... Es scheint meinen Staatsanwalt sehr zu beschäftigen, daß jenes großzügigere Verhalten eines verlassenen Ehemannes, das er sich vorstellen könnte, ihm selbst nicht ohne weiteres gelungen ist. Ich höre ihm den ganzen Nachmittag lang zu. Etwas verdutzt über seine Offenherzigkeit (er möchte sie eigentlich nicht, sieht sich aber mehr und mehr gezwungen, präzis zu werden, um allerlei Mißverständnisse zu bannen, und sich an das konkrete Beispiel aus eigener Erfahrung zu halten) fragt er ab und zu: Können Sie das verstehen? Es ist eine Geschichte wie tausende in dieser Art, also ohne weiteres zu verstehen; ich verstehe auch sein Bedürfnis, einmal jenen verschollenen Stiller zu sehen, den seine Gattin, wie ich höre, bis zur Grenze des Erträglichen (für ihn) geliebt hat.
Knobel, mein Wärter, war schon seit einigen Tagen etwas seltsam, immer eilig, wieder aus meiner Zelle zu kommen. Es entging mir nicht. Heute sagt er rundheraus:
»Herr Stiller –«
Ich blicke ihn bloß an.
»Herrgott nochmal«, sagt er und windet sich vor Scham wie ein Verräter, »ich bin der einzige gewesen, der Ihnen geglaubt hat –«
Julika überzeugt sie alle.
»Herr Stiller«, sagt er, »ich kann doch nichts dafür, daß es so ist, Herrgott nochmal, ich nehme es Ihnen ja nicht übel, daß Sie mir lauter Schwindel erzählt haben, aber ich kann doch nichts dafür –«
Ich esse und schweige.
Viertes Heft
Seine kleine Geschichte mit dem fleischfarbenen Kleiderstoff in Genua, die mein Freund und Staatsanwalt gestern erzählt hat, will mir nicht aus dem Kopf. Ich sehe ihn – nennen wir ihn Rolf – beispielsweise in seinem Nachtzug, den er blindlings bestiegen hatte, gleichgültig, wohin die Reisenun ging, froh wie ein Flüchtling, froh, daß um Mitternacht überhaupt noch ein Zug fuhr. Im Fahren, dachte er, erträgt es sich vielleicht leichter, und dann wollte er auf keinen Fall, daß er jetzt, nachdem er sich im ersten Schrecken ganz ordentlich gehalten hatte, nochmals vor seine Frau treten könnte. Und vom Überfahren der Grenze, mag sein, versprach er sich auch etwas. Je weiter, um so besser! Also saß er in diesem Nachtzug, ein Herr ohne Gepäck, allein in seinem Abteil zweiter Klasse. In Mailand, im Morgengrauen, stand der Zug in einer menschenleeren Bahnhalle, ein italienischer Eisenbahner klopfte mit dem Hämmerchen an die Räder, und sonst schien die ganze Welt zu schlafen wie Sibylle, die ja nun, nachdem sie es ihrem Gatten gesagt hatte, aller Kümmernisse ledig war. Pläne von knäbischer Rachsucht gingen ihm durch den Kopf; die Warterei in dieser Bahnhalle machte ihm seine Ziellosigkeit noch bewußter. Plötzlich krähte irgendwo ein Hahn, kurz darauf ein zweiter, ein dritter, schließlich krähte ein ganzer Güterzug voll Geflügel, das hier auf den Morgenmarkt wartete. Und dann, als endlich wieder die Räder rollten, konnte Rolf trotz allem schlafen, erwachte nur ab und zu am Bewußtsein, daß man mit halboffenem Mund ein dummes Gesicht hat; doch war er nach wie vor allein in seinem Abteil, tat alles, um schlafen zu können, denn je länger dieser Schlaf, um so größer die Hoffnung, daß sich beim Erwachen alles nur als ein böser Traum herausstellen würde. In Genua schien bereits die Sonne. Eigentlich sehr müde, so daß er sich am liebsten wie die Bettler einfach auf die Stufen gesetzt hätte, stand Rolf vor den Arkaden des Bahnhofs, ein Herr ohne Gepäck, dafür mit einem überflüssigen Mantel auf dem Arm, etwas unrasiert auch, blickte in den Verkehr mit seiner Huperei, mit seinen rasselnden und scheppernden Straßenbahnen in den Schattenschluchten schmaler Gassen, mit Rudeln von Leuten, die alle ein Ziel zu haben schienen, und das war nun also Genua. Eine Zigarette hatte er sich bereits angezündet. Was weiter? Zwischen den Arkaden hindurch, merkte er,
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