Stiller
übrigbliebe als ihre Wahrheit. Ich sehe bloß, daß es sogar mit der staatsbürgerlichen Freiheit, deren sie sich so rühmen, als wäre sie die Freiheit des Menschen schlechthin, in der Tat ziemlich faul ist, und ich kann mir ausrechnen, daß sie als ganzes Land, als Staat unter Staaten, genau so unfrei sind wie irgendein Kleiner unter Größeren, das ist nun einmal so, nur dank ihrer Unwichtigkeit (ihrer heutigen Geschichtslosigkeit) können sie sich selbst zuweilen in dem Anschein gefallen, unabhängig zu sein, und auch dank ihrer kaufmännischen Vernünftigkeit, die sie um des Handels willen zwingt, höflich zu sein mit den Mächtigen, und wer gegen die Mächtigen, da er so wohl von ihnen lebt, nichts einzuwenden hat, wird sich immer frei und unabhängig fühlen. Aber was hat all das zu tun mit Freiheit? Ich sehe doch ihre Gesichter; sind sie frei? Und ihr Gang, allein ihr häßlicher Gang; ist das der Gang von freien Menschen? Und ihre Angst, ihre Angst vor der Zukunft, ihre Angst, eines Tages vielleicht arm zu sein, ihre Angst vor dem Leben, ihre Angst, ohne Lebensversicherung sterben zu müssen, ihre Angst allerenden, ihre Angst davor, daß die Welt sich verwandeln könnte, ihre geradezu panische Angst vor dem geistigen Wagnis – nein, sie sind nicht freier als ich, der ich auf dieser Pritsche hocke und weiß, daß der Schritt in die Freiheit (den keine Vorfahren uns abnehmen können) immerdar ein ungeheurer Schritt ist, ein Schritt, womit man alles verläßt, was bisher als sicherer Boden erschienen ist, und ein Schritt, den niemand, wenn ich ihn einmal zu machen die Kraft habe, aufzuhalten vermag: nämlich es ist der Schritt in den Glauben, alles andere ist nicht Freiheit, sondern Geschwätz. Aber mein Verteidiger hat vielleicht gerade darum wieder recht: Wozu soll ich es sagen vor versammelter Presse? Wozu böses Blut machen? Wozu die Leute beleidigen? Am Ende ist es doch nur meine Sache, ob ich jemals frei werde, frei auch von ihnen; eine sehr einsame Sache.
Immer wieder muß ich feststellen, daß ich mich mit meinem Staatsanwalt, meinem Ankläger, besser unterhalte als mit meinem sogenannten Verteidiger. Das führt zu Vertraulichkeiten, die nicht ohne Gefahr sind. Heute zeigt er mir ein Foto von Sibylle, seiner Gattin, die mich jedesmal grüßen läßt. Wir unterhalten uns lange über die Ehe; selbstverständlich ganz allgemein. Mein Staatsanwalt hält die Ehe (offenbar haben ihn gewisse Erfahrungen daran zweifeln lassen) für durchaus möglich, wenn auch schwierig.Natürlich meint er die wirkliche, die lebendige Ehe. Zu den Voraussetzungen rechnet er unter anderem: das beidseitige Bewußtsein davon, daß wir kein Anrecht haben auf die Liebe unseres Partners; die lebenslängliche Bereitschaft für das Lebendige, selbst wenn es die Ehe gefährdet, und also eine immer offene Tür für das Unerwartete, nicht für Abenteuerchen, aber für das Wagnis; in dem Augenblick, wo zwei Partner glauben, einander sicher zu sein, haben sie sich meistens schon verloren. Ferner: die Gleichberechtigung von Mann und Frau; Verzicht auf die Meinung, daß die geschlechtliche Treue hinreiche, und ebenso auf die andere Meinung, daß es ohne geschlechtliche Treue überhaupt keine Ehe gebe; eine möglichst weitgehende und lautere, nicht aber rücksichtslose Offenheit in allen Nöten dieser Art. Und wichtig scheint ihm auch der gemeinsame Mut gegenüber der Umwelt; ein Paar hat bereits aufgehört, ein Paar zu sein, wenn einer der beiden Partner oder beide Partner sich mit der Umwelt verbünden, um den anderen Partner unter Druck zu setzen; ferner die Tapferkeit, ohne Vorwurf denken zu können, daß der Partner vielleicht glücklicher wird ohne uns; ferner die Fairneß, nie dem Partner einzureden oder sonstwie glauben zu machen, daß sein Austritt aus der Ehe uns töten würde usw ... . All dies, wie gesagt, redet er ins allgemeine, dieweil ich das Foto seiner Gattin betrachte, ein Gesicht, das gar nicht allgemein ist, ein einmaliges Gesicht, lebendig, liebenswert im höchsten Grad, viel fesselnder als seine Rede, die doch nur wahr ist, indem er seine verschwiegene Erfahrung mit diesem Gesicht meint; dann gebe ich das Foto zurück.
»Ja«, sagt mein Staatsanwalt, »wovon sind wir eigentlich ausgegangen?«
»Daß Ihre Frau ein Kind erwartet.«
»Ja«, sagt er, »wir freuen uns sehr.«
»Hoffentlich geht es gut.«
»Ja«, sagt er, »hoffen wir’s.«
Jean-Louis Dmitritsch ist der Pianist in ihrer Tanzschule,
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