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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Sidjani
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Bild von diesem Mann in Michaels Kopf.
    Zuerst sieht er nur das hagere Gesicht, die angegrauten Haare und den angegrauten Vollbart. Er trägt eine Brille, dieser Mann, etwas größer als die meisten, unmodisch beige mit dicken Bügeln. Und zu dem Gesicht gesellt sich mit jeder Karte, die Michael abreißt, auch der Körper dieser ganz fiktiven Gestalt, die dunkelgrüne Wolljacke und das weiße Hemd darunter, die schwarze Cord-Hose, die braunen Lederschuhe, hager seine Erscheinung, und schmächtig wirkt er, dieser Mann, aber sobald Michael ihn ganz vor Augen hat, fällt ihm noch etwas auf: seiner optischen Präsenz zum Trotz, strahlt dieser Mann Autorität aus. Selbstsicherheit, Strenge, sogar eine gewisse Hinterhältigkeit. All das als genaues Gegenstück zum liebenswerten Michael.
    Noch während ihn diese Erscheinung beschäftigt, er sich erschrickt über seine wirklichkeitsnahe Einbildungskraft, als ob er sich den Mann gar nicht ausdenken musste, weil er schon vorher da war, steht dieser plötzlich vor ihm, um seine Eintrittskarte abreißen zu lassen.
    Soeben habe ich roh skizziert, wie ich das gerne schreiben möchte. Diese Notizen sind zunächst alles, was ich brauche, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich habe mir lange darüber Gedanken gemacht, wie Michael dem Mann seinen Donut anbieten wird. Ich weiß, wie stressig es ist, wenn das Foyer voll von Menschen ist, die darauf warten rein gelassen zu werden. Manchmal sehe ich nur noch Hände sich mir entgegen strecken mit einem Ticket, eine gesichtslose Masse. Dann fand ich eine ganz einfache Lösung: Michael möchte jemandem den Donut geben, der sich aus der Masse hervor hebt; darüber hinaus sieht dieser Mann genau so aus, wie er ihn sich vorstellte. Nun, fast genau so, der hagere Mann, der Michael plötzlich aus seinem Trott reißt, trägt keine Brille. Als er ihm ins Gesicht sieht, scheint Michael sogar die Falten um Augen und Mund zu erinnern, ja, wiederzuerkennen, als wäre er dem Mann schon begegnet.
    Zunächst begrüßt Michael den Mann wie jeden anderen mit einem routiniert freundlichen, doch einstudierten ,Hallo'. Auch wenn die Schlange lang ist und der Mann ihn offensichtlich nicht erkennt, da er dasselbe wartende Gesicht wie jeder trägt, vermag Michael für wenige Sekunden die Szenerie zu kontrollieren, vom Entgegennehmen des Tickets bis zum Abreißen des unteren Teils und dem wieder Aushändigen. Michael fühlt sich bestätigt. Abgesehen davon trägt der Mann nichts bei sich, hat also vorher nichts gekauft, und außerdem, hier geht es nur um einen Donut! Michael verbindet das Entgegennehmen des Tickets mit jener banalen Frage, die er heute im Geiste schon so oft stellte:  
    „Möchten Sie einen Donut für Ihren Kinobesuch? Kostenlos.“
    Er erwartet nun ein fragendes Gesicht, aber so überraschend wie die Erscheinung des Mannes war, so ist auch seine Reaktion. Er scheint diese Frage erwartet zu haben und antwortet gelassen mit tiefer Stimme, fast einem Flüstern. Doch Michael versteht jedes Wort, als spräche der Mann in seinem Kopf.
    „Sehr gerne, Herr Martens.“
    In dieser klassischen Situation, die Michael aus einigen Filmen kennt (,Oh mein Gott, woher kennt der Unbekannte meinen Namen?'), vergisst er beinahe, dass er ein Namensschild trägt. Er überspielt seine sekündliche Nervosität und greift, gelassen, wie er meint, zum Donut, der neben dem Pult liegt. Er reicht ihn dem Fremden.
    „Danke“, sagt der hagere Mann und Michael reißt ihm das Ticket entzwei, schmeißt die untere Hälfte in einen Schlitz im Pult und die andere Hälfte reicht er zurück. Der Mann hat inzwischen das Papier angehoben, in das der Donut gewickelt ist, und sagt, dass Zuckerguss ihm am liebsten sei.
    „Als hätten Sie es gewusst.“
    Michael lächelt verlegen. Der Mann scheint trotz der Unruhe im Foyer noch verweilen zu wollen.
    „Wissen Sie“, sagt er, „ich würde Ihnen gerne Trinkgeld geben. Haben Sie eine Kaffeekasse?“ Und bei den Worten verschwindet seine rechte Hand in der Hosentasche. Als er sie wieder hervor holt, hat er sie zur Faust geballt und streckt sie Michael auf Bauchhöhe entgegen.
    „Nehmen Sie bitte“, sagt der hagere Mann und Michael hält seine flache Hand unter die Faust, die sich sodann öffnet und einige Münzen herabregnen lässt. Zunächst steckt Michael sie ungesehen in seine Hosentasche, bedankt sich brav, und geht weiter seiner Arbeit nach. Der unbekannte, hagere Mann verschwindet in der Menge der Menschen, die zu den Türen ihres

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