Stillmanns Münzen (German Edition)
erkenne. Was, das weiß ich noch immer nicht. Vielleicht wollte die Münze unbedingt, dass ich heute über sie schreibe. So hat auch der Stromausfall seinen Sinn. Ich kann mich dadurch auf das Wesentliche konzentrieren. Aber hier übertreibe ich, oder? Jedenfalls, bei Strom würde ich jetzt nicht schreiben, sondern Filme schauen.
Der Mann, den ich am Bahnsteig sah, diente mir später als Vorbild für den hageren Mann in Michaels Geschichte. Was erst wie ein harmloses Spiel begann, steigerte sich in ein Abenteuer, bei dem ich zum ersten Mal an meiner Münze zweifelte.
IV
Vor dem Putzen der Säle herrscht meist eine halbe bis ganze Stunde Leerlauf. Es ist die Zeit, wenn die meisten Mitarbeiter ihre Pause machen. So ist Michael alleine vorn, am Pult, und liest in einer der Zeitschriften, die allwöchentlich von einem Verlag gebracht werden, in dem das Kino Anzeigen schaltet. Eine Kasse für den Popcorn-Verkauf ist nicht mit Passwort gesperrt, falls ein Kunde während des Films etwas kaufen möchte und kein anderer da ist außer Michael. Er hat es mal probiert mit dem Verkaufen, aber er nimmt Geld nicht gerne in die Hand. Seine zwei Münzen bilden die einzige Ausnahme. Mal spielt er mit der einen, dann mit der anderen, ganz in sich versunken, dass er gar nicht bemerkt, wie tatsächlich ein Kunde zum Tresen kommt. Als dieser direkt vor dem Pult stehen bleibt, hebt Michael erst seinen Kopf und seine Gedanken aus den unwesentlichen Geschichten in der Zeitschrift. Da ist er wieder, der hagere Mann aus seiner Fantasie. Jetzt trägt er auch die Brille.
„Wie war der Donut?“ fragt Michael unbekümmert. Noch findet er es nicht seltsam, dass aus der großen Masse des heutigen Abends der hagere Mann ein zweites Mal heraus sticht. Und dieser blickt gar nicht erfreut oder dankbar. Es lauert etwas Grimmiges in seinen Augen, dass sich Michaels Nackenhaare sträuben.
„Geben Sie mir bitte die Münze zurück“, sagt der Mann. Er quetscht den Satz durch die Zähne und es bereitet ihm Mühe freundlich zu bleiben. Das ,Bitte' klingt so gar nicht nach seiner Bedeutung.
Vielleicht ahnte Michael etwas, jedenfalls überrascht ihn dieser Satz nicht. Ohne darüber nachzudenken, als hätte er dies schon lange zuvor beschlossen, erwidert er, dass er nicht wüsste, wovon der Mann spräche.
„Ich weiß, dass ich Ihnen meine Münze mit dem Trinkgeld gab“, sagt der Mann, „und das hatte ich nicht beabsichtigt. Es war sogar dumm von mir. Und nun bitte ich Sie, diesen Fehler meinerseits, zu korrigieren, indem Sie mir die Münze wiedergeben.“
Aber das Trinkgeld war ein Euro zwanzig, drei Münzen, mehr nicht, welche meine er denn? Es fällt Michael nicht schwer, so zu spielen, denn er will die Münze behalten. Mein Gott, er hat sie doch gerade erst erhalten.
„Ich meine die amerikanische Münze, Herr Martens.“ Die Fassade bröckelt. Michael glaubt zu sehen, wie der Mann die Zähne fletscht. Ein wildes Tier, das in seine Freiheit will. Michael antwortet, dass er nicht wüsste, wovon der Mann spräche, noch immer nicht, da schlägt der Mann mit der Faust auf den Tresen und schreit:
„Geben Sie mir auf der Stelle meine Münze wieder, Sie verdammter Lügner!“
Michael durchzuckt die Stimme wie ein bebendes Echo. Ist das ein Sammlerstück?, fragt er sich. Ist sie wertvoll? Sollte ich nicht doch...
Bevor der Mann Michael packen kann, er holt schon aus, bellt eine andere Stimme durch das Foyer, André aus der Theaterleitung.
„Was ist denn hier los?!“ schreit er und kommt Michael zu Hilfe. Andrés Gestalt steht im muskulösen Widerspruch des hageren Mannes und das schindet Eindruck.
„Soll ich die Security holen?“, fragt André laut, aber ohne zu schreien, als er die beiden am Einlass erreicht. Der hagere Mann lässt seinen Arm sinken, kraftlos nun, wie es scheint, aber sein Körper bleibt angespannt.
„Das wirst du noch bereuen“, zischt er Michael zu, bevor er sich umdreht und schnellen Schrittes zur Rolltreppe flieht. Michael fragt sich, ob das vielleicht stimmen wird. André klopft ihm grob gegen die Schulter, als wäre nichts geschehen.
„Warum war der denn so sauer?“ fragt er und Michael zuckt mit den Schultern. Ungewöhnlich für ihn, er lügt doch nie. Als hätte die Münze ihn dazu gebracht. Die Münz en , korrigiert er sich, es sind jetzt zwei! Doch sind es nur runde Stücke Metall, mehr nicht.
Michael vergisst die Begegnung mit dem hageren Mann nicht. Je mehr er versucht, sie zu verdrängen, desto
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