Stillmanns Münzen (German Edition)
lebt, denke ich an sie, die eine, die zu perfekt ist für mich. Sie könnte mich erlösen, auch wenn ich nicht weiß, wovon. Sobald der Strom wieder durch Hamburg fließt und ich meiner Arbeit nachgehen kann, werde ich die Münze befragen, ob ich sie nach einem Treffen fragen darf.
Nach unserem ersten Gespräch unterhielten wir uns nun regelmäßig. Über Filme meistens, weil sie meinen Geschmack teilt, besonders bei Horrorfilmen. Aber das war und ist mir nicht genug. So gerne würde ich mit ihr auf meinem Sofa sitzen, Zigaretten rauchen und Chips knabbern, ein Film läuft auf meinem Fernseher, ,Tanz der Teufel' vielleicht, der uns beiden als Kinder einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Was wäre mein Leben ohne diesen Wunsch? Jeder braucht doch seine Wünsche, ganz gleich, ob sie auch erfüllt werden.
Seltsam ist, dass sie manchmal, wenn wir uns unterhalten, wie ausgedacht wirkt. Unwirklich wie die perfekte Traumfrau. Besonders fühle ich mich so, wenn wir zusammen lachen und ihr Grübchen in der linken Wange zum Vorschein kommt. Aber dann schaudere ich auch, denn nicht ich denke mir Figuren aus, sondern er. Und er trieb ein grausames Spiel, wäre sie tatsächlich ausgedacht.
Ausgedacht! So jemanden kann man sich nicht ausdenken! Ich glaubte nur eine Zeitlang, in einem Film gelandet zu sein. Nicht mehr mein eigenes Leben zu leben, sondern ein anderes, in dem die Mauern der Realität sich bewegten. Und der Stromausfall in meiner Stadt wirkt zu dem Ganzen wie ein Ende. Die Lichter gehen aus, dann kommt der Abspann.
Was die Hauptfigur dann macht, ist der Fantasie des Zuschauers überlassen. Aber hier, im realen Leben, geht die Figur nach Hause, trinkt Wodka und schreibt bei Kerzenschein über ihr triviales Leben. Oder über die kurze Zeit, in der sie sich wie der Held einer Abenteuergeschichte fühlte. Und alles beginnt, als er eine Münze aus dem Jahre 1973 findet und die ersten Worte mit der Frau seiner Träume wechselt. Für eine sehr kurze Zeit sind beide Hauptfiguren, aber nicht in einer Liebesgeschichte.
Nachdem ich die Münze fand, geschah eine ganze Weile nichts. Ich genoss die Gespräche mit ihr. Ihr muss aufgefallen sein, wie sehr ich sie anhimmelte. Mein Gesicht strahlte so heiß, dass ich glaubte, rot anzulaufen. Manchmal hielt ich ihre Anwesenheit nicht aus und unter blödesten Vorwänden suchte ich das Weite. Was die Münze anging, so stellte ich ihr an demselben Abend noch meine erste Frage. Ja, sie antwortete mit ,Nein', ob ich sie nach einem Treffen fragen durfte.
Das alles ist schon mehrere Monate her und ich bin mir sicher, es wäre so weiter gegangen, wenn ich nicht die Details wahrgenommen hätte. Wie mein Leben erst im Kino begann, was war ich schon vorher?, so begann das Andere mit einem Graffiti. Für das Gehirn ist es leicht, Zusammenhänge herzustellen, weil es diese braucht, um Eindrücke zu ordnen. Auch wenn vieles zufällig scheint, liegt dem Ganzen ein System zu Grunde.
Als sie feststellte, dass meine Münze und der Fahrstuhl aus demselben Jahr waren, klickte etwas in mir. Jeder andere hätte vermutlich ob dieses merkwürdigen Zufalls nur kurz mit dem Kopf geschüttelt und hätte wenige Sekunden gebraucht, seinem Alltag weiter nachzugehen. Ich aber fühlte mich von dieser Koinzidenz tief berührt. Ich glaubte, kurz Einblick in den tieferen Zusammenhang unserer Welt bekommen zu haben, jenseits von den Geschichten meines Begleiters. Auch wenn ich nicht wusste, was diese Erkenntnis überhaupt aussagte, so gehörte sie doch ganz mir. Mir allein!
An mir lag es nun, dieser Erkenntnis zu folgen, oder einen Weg zu finden, der zu ihr zurück führte. Alles lag in den Details.
Eines Tages stieg ich wie immer an der Station Mundsburg aus. Die Bahn fuhr weg und für einen kurzen Moment sah ich auf den gegenüber liegenden Bahnsteig. 1973 stand dort am Geländer. Daneben ein Mann gelehnt, der anscheinend teilnahmslos ins Leere starrte. Ich war so erschrocken über diese vier Ziffern, dass ich erstarrte und wartete, bis der Mann in seine Bahn gestiegen war. Ich ahnte, dass ich dort mehr finden sollte. So erblickte ich die Initialen ,N.Y.' neben der mysteriösen Jahreszahl. Münze, Fahrstuhl und diese Buchstaben wirkten absolut zusammenhangslos, und trotzdem, alle drei verband diese Jahreszahl.
Ich glaube an eine Ordnung der Dinge und sie ist außerhalb von uns. Für mich, in meiner Ordnung der Dinge, führte mein Begleiter diese drei willkürlichen Dinge zusammen, damit ich endlich
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