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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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mehr sich aber diese Stimme, die zur Vorsicht mahnte, mühte, je lauter und eindringlicher sie lockte, um so schärfer ward dann der Widerstand, bis endlich nach langem innerem Streite das Pflichtbewußtsein den Sieg davontrug. Der Wille war endlich restlos Herr geworden. Nun erst konnte das Schicksal zu den letzten Proben schreiten, ohne daß die Nerven rissen oder der Verstand versagte …«
    Tränen liefen über Mengeles Gesicht.
    »Der Führer!« schluchzte er. »Es ist wirklich der Führer …!«
    Er hatte die Hände gefaltet und schien zu beten, wahrhaftig zu beten, während Gulf in der Kälte des Grabes fror. Er fror noch immer, als ein wenig später der Wagen von der Transamazonica bog, über einen holprigen Dschungelweg rumpelte und auf einer gerodeten Fläche von der Größe eines Fußballplatzes anhielt, auf der ein Hubschrauber wartete.
    Er stieg mit Mengele aus und ging durch die schwüle, heiße Luft zur Maschine, aber selbst die Hitze des Tropentages konnte die Kälte in ihm nicht vertreiben, so daß er noch immer fror, als er im Hubschrauber Platz nahm. Der Dschungel unter ihm schrumpfte, die Wolken über ihm wuchsen, und sie flogen nach Westen, weiter und weiter, bis er vor sich die Anden sah, grauer Granit und glitzernde Gletscher, Gipfel zackig wie geborstene Türme, Grate, die krumm in Wolkenbänke ragten, und irgendwo das Felsennest und tief im Gestein die Andenfestung, in der Bormann lauerte, fett und aufgedunsen wie eine alte Spinne, die erst sterben wollte, wenn sie die ganze Welt mit in den Tod reißen konnte.

13
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Sie waren
ganz in Eis
gekommen,
alle,
die jetzt
da saßen,
    viertausend oder fünftausend Meter über dem Erdboden in der Bergwelt der Anden, deren Gipfel draußen vor den Fenstern wie stumme Wächter aufragten. Die Decke des großen runden Raumes wurde von Marmorsäulen gestützt, in die Arno Breker seine Reliefs geschnitzt hatte: Bilder vom heldenhaften Kampf der SS und von den glorreichen Siegen der Partei, Bilder von den letzten Tagen im Führerbunker. Und während Gulf sie betrachtete, vermißte er Huldigungen an das Sterben in den Konzentrationslagern und an die deutschen Soldaten, die all dieses Morden erst möglich gemacht hatten, bis sie selbst auf den Schlachtfeldern der Welt zu Millionen fielen.
    Draußen dämmerte der Abend und tauchte die Berge in das rote Licht des Sonnenuntergangs, aber bald würden neue Sonnen am Himmel aufgehen, heiß genug, um die Felsen zu schmelzen und den ganzen Erdball zu verbrennen.
    Mit den anderen saß er am runden Tisch, in einem wuchtigen Polstersessel aus Eichenholz, echte deutsche Eiche, wie ihm Mengele stolz versichert hatte, genau wie der schwere Tisch, auf dem keine Papiere lagen, keine Flaschen und Gläser standen, nur die Silberdöschen, die kleinen, ovalen Barockspiegel und die silbernen Schnupfröhrchen. Offene Kamine spendeten flackerndes Licht, während draußen der Himmel sich weiter verdunkelte. Die Holzscheite prasselten so laut, daß man meinte, fernen Waffenlärm zu hören, doch trotz ihrer Glut war Gulf im Eis erstarrt, erstarrt wie die zwölf am Eichentisch.
    »Es ist viel größer«, sagte Martin Bormann und zog den Schnee in die geblähten Nüstern, damit nicht ein zufällig aufglimmender Funke menschlicher Wärme seine Seele taute. »Dreimal so groß wie das alte Teehaus auf dem Kehlstein, das ich dem Führer 1938 gebaut habe, mitten in der Sudetenkrise, nur Monate vor dem Krieg. Über eine steile und kurvenreiche Straße, an senkrecht aufragenden Felswänden vorbei und über hohe Steinviadukte hinweg, mußte man tausendsiebenhundert Meter hinauffahren und gelangte dann an ein Tor aus Kupfer und Bronze, das in den Berg eingelassen war. Hundertdreißig Meter weit bohrte sich ein Stollen in den Fels hinein, strahlend hell erleuchtet, mit gemauerten Wänden aus Natursteinen. Am Ende des Stollens lag ein Aufzug, und die Kabine glänzte wie Messing im Lampenlicht. Ich erinnere mich noch genau an dieses Glänzen …«
    Er nahm sein Silberdöschen zur Hand, schüttete den Schnee auf den Barockspiegel und schnupfte ihn mit dem silbernen Röhrchen. Die Augen in seinem Greisengesicht glitzerten wie die Gletscher, die die Hänge der nahen Bergriesen verkrusteten.
    »Noch einmal hundertdreißig Meter mußten zurückgelegt werden, diesmal senkrecht in die Höhe, aber der Aufzug brauchte nicht einmal eine Minute dafür. Dann das Vestibül des Teehauses, die große Küche, das Speise- und das Arbeitszimmer, der Raum für die

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