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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Wachmannschaft, die Bäder und der Keller – stellen Sie sich vor, zweitausend Meter über dem Boden ein Keller! –, die Sonnenterrasse und natürlich die Kaminhalle. Dreißig Millionen Reichsmark hat das Teehaus auf dem Kehlstein gekostet – mein Geburtstaggeschenk an den Führer. Im September wurde es eingeweiht. Nur im kleinen Kreis: der Führer und ich und dann noch Goebbels und Himmler und ein englischer Journalist, Ward Price, der aus dem Teehaus den Mythos von der deutschen Alpenfestung schuf … Später kamen andere Besucher, Ribbentrop, Bouhler, der Gauleiter von München, der Prinz von Hessen, der französische Botschafter François Poncet, von Brauchitsch und Keitel von der Wehrmacht, und als höchster Gast die Lady Unity Mitford, die das Herz des Führers im Sturm eroberte … Aber dann begann der Krieg und das Teehaus geriet in Vergessenheit – bis es größer, höher und prächtiger in den Anden neu erstand …«
    Bormann wackelte lächelnd mit dem kahlen Schädel. Seine runzligen Hände spielten mit dem Silberdöschen, streuten Schnee auf den Spiegel, führten das Röhrchen an die Nüstern, und er schnupfte den Schnee fort. »Ah!« seufzte er, schnaufte dann, daß sein feister Leib erbebte, lachte dröhnend, befingerte das Band des Blutordens an seiner schwarzen Uniform, streute neues Kokain auf den Spiegel.
    »Morello ist tot«, murmelte Klaus Barbie, grau und vergreist wie der Sekretär, tief verschneit wie alle hier, mit Eisblumen an den Augen: Spinnenaugen, die rastlos hin und her wanderten, Beute suchten, niemals Ruhe fanden. »Dieser Schweinehund ist endlich tot. Die Falange ist liquidiert, und wer von den Falangisten entkommen ist, führt ein Leben auf Zeit. Wir werden sie alle eliminieren, wir oder der Krieg.«
    »Wir werden siegen«, nickte Martin Bormann. Er sah Gulf an. »Der Führer lebt; deshalb werden wir siegen.«
    »In spätestens einer Stunde werden unsere Schiffe auf die britische Flotte treffen«, sagte ein großer, schmaler Mann in Admiralsuniform und mit einer Haut so weiß wie das Kokain, das beständig seinen Weg vom Spiegel zu den Nüstern fand. Man glaubte es knistern und knirschen zu hören, wenn er sich zur Seite beugte, um dem Luftwaffengeneral etwas zuzuflüstern, das Knistern und Knirschen der unsichtbaren Eiskruste auf seiner Seele. »In spätestens einer Stunde droht der Royal Navy tausendfacher Tod.«
    »Das perfide Albion!« zischte der Wehrmachtgeneral an seiner Seite, schnupfte die weißen Kristalle und besah sich mürrisch im fleckigen Spiegel. »Perfid! Einmarschieren, sage ich, die Kreidefelsen von Dover sprengen …«
    »Wir werden siegen«, wiederholte Bormann.
    »Wenn die Briten nicht weichen«, drohte der Admiral, »versenken wir ihre Schiffe mit Mann und Maus. Und unsere U-Boote werden ihre Städte einäschern. Zuerst die Städte, dann die Dörfer, dann das ganze Land.«
    »Und Bomben auf die USA«, schloß sich der Luftwaffengeneral mit frostiger Stimme an. »Auf San Francisco und New York, auf Dallas und auf Washington. Wir werden das Weiße Haus atomisieren …«
    »Morgenthau spricht im Weißen Haus«, sagte Gulf. »Und John F. Kennedy spricht in Dallas.«
    »Wir werden sie töten«, versicherte Bormann grimmig.
    »Aber sie sind tot.«
    »Wir werden sie töten.« Bormann schnupfte und schnaubte. »Alle. Jeden einzelnen. Morgenthau, Kennedy, Stalin, Churchill, Roosevelt, Eisenhower – alle! Und wenn sie tot sind und wiederauferstehen, werden wir sie ein zweites Mal töten, und wenn es sein muß, auch ein drittes und viertes und fünftes Mal, so lange, bis sie im Grab bleiben. Es ist Krieg.«
    »Warum spricht der Führer nicht?« fragte ein anderer aus der Runde mit dem Emblem der Raketentruppen an den Schulterklappen. Seine Stimme klirrte wie Eiswürfel in einem Cocktailglas. »Warum schweigt der Führer? Rufen Sie ihn, Mr. Gulf. Die Zeit wird knapp. In einer Stunde steigen die Raketen auf, aber wir brauchen den Befehl – den Führerbefehl. Es ist sein Krieg. Es soll sein Sieg sein.«
    »Der Endsieg«, nickte Barbie und schüttete eine neue Prise Kokain auf den Spiegel.
    »Sieg?« sagte Gulf. »Was für ein Sieg? Über verbrannte Erde und Milliarden Tote? Alle werden sterben, wenn es zum Atomkrieg kommt.«
    Bormann schnupfte, sah finster drein, kratzte sein schlaffes Doppelkinn. »Wahrhaftig. Unsere volkliche Lage wird nach diesem Krieg eine katastrophale sein, denn unser Volk erlebt jetzt den dritten gewaltigen Aderlaß im Zeitraum von siebzig

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