Stimmen der Nacht

deutscher Flüchtlinge. Mittellos, verbittert und voller Haß.«
    Mengele lachte leise.
    »Wissen Sie, das war die wahre Geburtsstunde des Nationalsozialismus. Natürlich hat es vor dem Krieg Millionen Parteigenossen gegeben, auch vor der Machtübernahme, aber der Morgenthau-Plan hat Nationalsozialismus und Deutschtum verschmolzen. Für die Welt waren alle Deutschen Nazis, und im Exil bekannten sie sich dazu. Was blieb ihnen auch anderes übrig, den Vertriebenen, Entwurzelten, diesem grausam entrechteten Volk? Wir Deutsche mußten zusammenstehen, wollten wir nicht endgültig untergehen, und wir mußten besser und tüchtiger sein als alle anderen Völker zusammen. Wir arbeiteten hart und wir lebten nur für die Rache. Die Rache, Mr. Gulf, ist eine mächtige Triebkraft, wenn man sie richtig einsetzt. Und wir haben sie richtig eingesetzt – Bormann, Barbie, Heinrich Möller von der Gestapo, SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend, der ehemalige Reichsjugendführer Axmann … Wir organisierten die Bewegung neu, während die deutschen Industriellen wie Krupp, Flick und Thyssen mit den Geldern, die sie noch während des Krieges in die Schweiz, nach Südafrika und Südamerika geschafft hatten, ihre Betriebe neu gründeten … Aber wozu Ihnen eine Geschichtslektion erteilen? Sie wissen, was aus diesen entrechteten Vertriebenen, diesem schändlich entrechteten Volk geworden ist.«
    »Ja, ich weiß«, nickte Gulf. »Sie haben viel erreicht. Atombomben, Interkontinentalraketen, Marschflugkörper, die KZs auf Feuerland … Genau das, was man von einem Kulturvolk erwartet.«
    »Ihr Sarkasmus ist fehl am Platz.«
    »Warum haben Sie Morello und die Frau erschießen lassen?«
    »Warum? Ich verstehe Ihre Frage nicht. Beide waren Falangisten, und die Falange hat sich gegen uns verschworen, ein Doppelspiel getrieben.«
    »Sie haben keinen Widerstand geleistet. Sie konnten Ihnen nicht mehr gefährlich werden.«
    »Sie waren Feinde«, sagte Mengele achselzuckend. »Verräter. Volksschädlinge.«
    Volksschädlinge. Mengele hatte die ganze Zeit Englisch gesprochen, und nun dieses deutsche Wort … Ein Wort wie Endlösung, wie Untermensch oder wie Herrenrasse. Worte aus der Vorzeit, blutrünstig und bestialisch, Worte, wie sie vielleicht der Tyrannosaurus rex benutzt haben mochte …
    »Morello hielt sich für klug«, fügte Mengele hinzu. »Aber er war nicht klug. Er war ein Phantast, ein armer Narr. Er glaubte, die ODESSA überlisten zu können. Er wollte Sie und damit den Führer an einen sicheren Ort bringen und den Reichsleiter erpressen. Er war verrückt. Er hatte von Anfang an keine Chance gegen uns. Er mußte verlieren, und wenn ich bedenke, wie gelassen er gestorben ist, scheint er es geahnt zu haben.«
    »Warum wollte Bormann mich umbringen lassen?« fragte Gulf. »Drüben im Reich. Durch diese Werwolfgruppe. Das Kommando Heinrich Himmler.«
    »Umbringen?« rief Mengele entrüstet. »Sie? Aber nein! Niemals! Warum hätten wir Sie töten sollen? Wir lieben Sie, Mr. Gulf!«
    Gulf ignorierte die Ironie – sofern es Ironie war und nicht Nazi-Ehrlichkeit, eine Ehrlichkeit, der man sofort mißtraute und der niemand glaubte, weil sie viel zu verdreht war und zu viele Schrecken barg, als daß man in ihr etwas anderes als eine Lüge sehen wollte. Die Ehrlichkeit eines Adolf Hitlers, der nie einen Hehl aus seinen aberwitzigen, verbrecherischen Plänen gemacht hatte.
    »Die amerikanische Abwehr hat einen Kurier abgefangen«, sagte Gulf. »Einen Kurier der ODESSA mit einem Befehl für die Werwölfe. Einem Befehl, der direkt aus Deutsch-Amerika kam, aus Bormanns Andenbunker. Dem Befehl für meine Hinrichtung.«
    »Wer hat das behauptet?«
    »Ein Oberst des alliierten Anti-Terror-Kommandos. Nach meiner Befreiung.«
    Mengele schnaubte. »Eine Verleumdung!« ereiferte er sich. »Unerhört! Einfach unglaublich! Nie ist die Rede davon gewesen, Ihnen ein Leid zuzufügen, Mr. Gulf. Die Vorstellung ist geradezu grotesk. Der Reichsleiter hat General Barbie persönlich für Ihre Sicherheit verantwortlich gemacht. Wäre Ihnen etwas zugestoßen, würde Barbie jetzt nicht mehr leben. Die Werwölfe haben Sie nur entführt, weil wir befürchteten, daß Ihr Besuch im Kölner Dom die Wiedergeburt des Führers und der anderen Helden des deutschen Volkes stören könnte. Aber als wir erfuhren, daß der Führer Ihnen folgt, da erkannten wir, wer Sie in Wirklichkeit sind. Erst in diesem Moment verstanden wir die Zeichen. Erst in diesem Moment wurde uns klar, was