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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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größer.
    Tödliche Sterne von Menschenhand.
    »Fürchtest du dich?« fragte Elizabeth wieder.
    »Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß. Er hatte keine Angst. Die Angst lag längst hinter ihm. Wie alles andere.
    »Dann ist es gut«, sagte sie, »denn die Furcht ist ein schlechter Weggefährte, besonders auf diesem Weg, der vor uns liegt. Ich habe lange nach diesem Weg suchen müssen. Er liegt gut versteckt und ist nur in besonderen Momenten sichtbar, und nur für die Toten, nicht für die Lebenden. Er führt zu den Pforten, hinter denen andere Räume liegen, die tiefen Räume in uns, und hinter den Räumen die Welten. Andere Welten. Wie Perlen auf einer Schnur, die in die Unendlichkeit reicht. Wir müssen gehen, solange die Pforten geöffnet sind. Bist du bereit?«
    Er sagte nichts, nickte nur, denn draußen ging die erste thermonukleare Sonne auf, warf ihr gleißendes, sengendes Licht über das vergletscherte Bergmassiv, und Donner erstickte alle Worte. Die ungeheure Hitze schmolz das Fensterglas, verbrannte Tisch und Sessel zu Asche, glühte die Marmorsäulen aus, aber er spürte die Hitze nicht und nicht den Sturm, der der Hitze folgte. Da waren nur er und Elizabeth in diesem Licht, das die ganze Welt durchdrang. Der Boden unter ihren Füßen löste sich auf, und sie stürzten, tiefer und tiefer, in den Abgrund aus Licht. Haut an Haut stürzten sie, bis es keinen Donner mehr gab, keine Hitze, keinen Sturm, nur noch die Pforte am Grunde des Ichs und das Licht, das blendende, strahlende, alles durchdringende Licht …

… am Himmel über Berlin, das Feuerwerk über dem Reichstag und dem Brandenburger Tor, das Zischen und Heulen der Raketen, das Krachen der Böller und das weithin hörbare Geläut der Berliner Freiheitsglocke – alles war mit einemmal so fern von ihm, flüchtig wie eine Spukerscheinung, unwirklich und nicht von dieser Welt. Für einen Moment hatte Gulf das Gefühl, wachend zu träumen. Er sah die Menschenmassen, die vor dem Reichstag hin und her wogten, das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer. Und wie auf einer doppelt belichteten Fotografie sah er andere Bilder den Reichstag überlagern: Bilder von vergletscherten Bergen und überwucherten Ruinen, von Männern im Eis und Männern in schwarzen Uniformen, von Gräbern, endlos und weit. Und plötzlich glaubte er zu stürzen, haltlos in unauslotbare Tiefen zu stürzen …
    »Jakob?« sagte Elizabeth.
    Er keuchte.
    »Ist dir nicht gut?« fragte Elizabeth.
    Er starrte sie an, noch immer in diesem Gefühl der Unwirklichkeit gefangen, während rings um ihn die Sektkorken knallten und die Menschen einander umarmten und zuprosteten, während drüben am großen Flaggenmast die Fahne des vereinigten Deutschlands gehißt wurde, und schaudernd dachte er:
    Irgend etwas stimmt nicht. Irgend etwas ist ganz und gar falsch.
    »Was ist mit dir?« fragte Elizabeth.
    »Nichts«, sagte er hastig. »Es ist alles in Ordnung.«
    Aber es war eine Lüge. Irgend etwas stimmte nicht: irgend etwas Unerklärliches war geschehen – mit ihm, mit der Welt. Panik stieg in ihm auf, eine kalte, grimmige Angst, als könnte sich dieses ausgelassene Fest, mit dem die Deutschen nach Jahrzehnten der staatlichen Trennung ihre Einheit feierten, von einem Augenblick zum anderen in etwas Düsteres, abgrundtief Böses verwandeln …in einen Totentanz …in einen Tanz auf der Asche der Welt …
    Er schüttelte unwillig den Kopf.
    Es war absurd.
    Es mußte am Sekt liegen. Zuviel Sekt auf nüchternen Margen. Und zuviel Arbeit. Die letzten Tage vor dem Flug waren anstrengend gewesen; die Vorbereitungen für die neue Show, die Probeaufnahmen, die Hetze. Dann der Flug nach Berlin. Und kaum gelandet, hatten sie sich in den Trubel der Einheitsfeiern gestürzt … Geschichte live erleben. Es war Elizabeths Wunsch gewesen. Ihr erster gemeinsamer Urlaub seit vier Jahren …
    Er sah Elizabeth an, sah die Besorgnis in ihrem Gesicht, und wie so oft ergriff ihn ihre Schönheit, als wäre sie ein besonderes Geschenk an ihn.
    »Ich liebe dich«, sagte er, während über ihnen am Himmel das Feuerwerk erstrahlte und die Hunderttausende rund um den Reichstag und das Brandenburger Tor die deutsche Nationalhymne anstimmten. »Ich liebe dich mehr als mein Leben«, sagte er, und es war, als wären sie nur deshalb nach Berlin gekommen: um wie die Deutschen die Trennung zu überwinden, die Entfremdung der letzten Jahre.
    Doch das vage, diffuse Unbehagen blieb.
    Vielleicht hatte es mit den tausend und tausend Fahnen zu

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