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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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den Fingern durchs Haar zu fahren, immer wieder. Sein Herz trommelte wie wild. Das würde sie doch nicht tun, wenn sie ihn gleich zurückweisen wollte? Nach einer Weile hörte er auf zu spielen, stellte die Gitarre weg und stand auf. Sie standen sich so dicht gegenüber, dass zwischen ihre Nasenspitzen kaum mehr als eine Kinderhand gepasst hätte.
    »Morgen gehe ich wieder zur Schule«, sagte sie. »Morgen fängt das Leben wieder an.«
    Er nickte zufrieden. Glücklich.
    »Sei mir nicht böse, dass ich mich in den letzten Tagen nicht gemeldet habe. Es war nicht, weil ich dich quälen wollte. Ich konnte nur einfach nicht.«
    »Schon okay.«
    »Ich war so erschöpft. So … ich weiß auch nicht … unfähig, irgendwas zu tun. Aber ich habe mich trotzdem über deine SMS gefreut.«
    »Ich liebe dich, Joy.«
    Das waren die Worte. Er hatte sie gesagt. Zu ihr. Und sie hatte sie gehört.
    Er sah in ihr Gesicht, sah ihr Lächeln, ihre großen, dunklen Augen.
    »Hab ich mich eigentlich schon bei dir dafür bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast?«, fragte er da.
    »Eigentlich nicht. Du solltest sofort damit beginnen.«
    Er wusste, was sie meinte. Was sie wollte. Nicht nur ihre Augen sagten es ihm. Alles an ihr. Und auch alles an ihm wollte nichts mehr, als sie zu spüren. Jetzt. Sofort. Dennoch zögerte er. Nicht aus Scheu oder Angst. Dieser Moment war nur einfach viel zu kostbar, er wollte ihn auskosten und so lange wie möglich genießen. Er legte seine Hand an ihren Hals, zog sie ein wenig zu sich heran, sein Daumen streichelte dabei zart über ihre Wange. Langsam näherte er sich ihr, hielt kurz inne, sie kam ihm entgegen. Dann endlich berührte er diese wunderbar weichen Lippen, vorsichtig, suchend, zog sich kurz zurück, um sogleich wiederzukehren und sich nun ganz hineinfallen zu lassen in diesen Kuss, ihren ersten, den er nie in seinem Leben vergessen wollte. Und sie sollte das auch nicht.

Epilog
    DER WINTER WAR kalt gewesen, nun kam endlich der Frühling. Für Sascha und Joy blieb jedoch wenig Zeit, die wiedergekehrte Wärme zu genießen, denn die Abiturprüfungen rückten gnadenlos näher. Sie lernten gemeinsam, oft erklärte er Joy bis tief in die Nacht hinein Infinitesimalrechnungen, für die sie mindestens zwei Leben brauchen würde, um sie wenigstens einmal zu verstehen.
    »Es ist immer das gleiche Verfahren«, sagte er, wenn sie mal wieder in einem Wutausbruch das Mathebuch in die Ecke gefetzt hatte.
    »Und du bist ein Idiot!«, gab sie zurück, und ihre Augen blitzten dabei so frech und rebellisch, dass er nicht anders konnte, als sie sofort mit einem Kuss zu besänftigen.
    Wenn dann die letzte Umkehrfunktion berechnet, der letzte Extremwert bestimmt war, fielen sie sich müde in die Arme.
    »Wie kommt es nur, dass du so klug bist?«, fragte Sascha sie dann immer wieder zwischen zwei Küssen, und sie fragte ihn: »Wie kommt es, dass du so schön bist?«
    Eines Samstagmorgens holte ein Klopfen an der Tür die beiden aus dem Schlaf. Wenig später steckte Saschas Mutter den Kopf zur Tür herein. Mit diesem Blick, den sie immer draufhatte, wenn sie Joy in Saschas Bett vermutete. Sie sah dann immer aus, als würde sie sich gewisse Bemerkungen verkneifen.
    »Da ist ein Brief für dich, Sascha«, sagte sie. »Er muss gestern schon in der Post gewesen sein. Ist es wirklich so schwer, einmal am Tag den Briefkasten zu leeren?«
    Sascha schaute aus dem Dickicht seiner Haare, das sein halbes Gesicht bedeckte, zu ihr auf. »Sorry, Mama. Was denn für ein Brief? Von wem überhaupt?«
    »Ich weiß es nicht. Es steht kein Absender drauf.« Sie legte ihn neben der Tür auf den Boden und ließ sie wieder allein.
    Joy, sofort hellwach, sprang aus dem Bett, holte den wattierten DIN -A 5 -Umschlag und ließ sich auf der Bettkante nieder. Sascha setzte sich auf, nahm den Brief und riss ihn auf. Etwas fiel heraus: das Glitzerherz.
    Joy war schneller als er und hob es auf.
    »Oh, wie kitschig!«, rief sie. »Wer schickt dir denn so was? Gibt es da etwa eine Verehrerin? Führst du ein Doppelleben?«
    Er reagierte nicht. Das kleine Ding hatte er ganz vergessen. Schlagartig brachte es den Moment zurück, in dem er es zuletzt gesehen hatte: in Mareikes Bauwagen, als er gefesselt auf dem Boden lag.
    »Das ist von Mareike«, sagte er und zog den Brief aus dem Umschlag.
    Die Heiterkeit in Joys Gesicht verflog. »Was will sie denn von dir?«
    Er begann zu lesen.
    Lieber Sascha,
    wenn Du das liest, bin ich nicht mehr am Leben. Ich weiß

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