Stirb leise, mein Engel
tot. Ich glaube, sie ist tot. Mit zwei Fingern ziehe ich ihre Hand am Ärmel hoch und lasse sie los. Sie fällt, schwer wie ein Stein. Was unterscheidet sie jetzt eigentlich von einem Stein? Und wo ist das hin, was sie eben noch war? Irgendwas ist hier passiert, aber so richtig kapier ich nicht, was. Wird mir gleich schlecht?
Nein.
Ich muss aufhören, sie anzustarren. Vielleicht bringt das Unglück. Vielleicht bin ich jetzt verflucht. Unsinn! So was gibt es nicht. Ich muss mich konzentrieren. Fokussieren. Ich brauche jetzt alle meine Sinne und meinen ganzen Verstand. Das ist die Phase, in der Fehler gemacht werden. Dumme Fehler. Ich darf keine Fehler machen.
Ich reiße mich also los und bringe mein Glas in die Küche, spüle und trockne es und stelle es in diesen superhässlichen Hängeschrank. Dann kehre ich in Sarahs Zimmer zurück, gehe schnurstracks auf den Schreibtisch zu, ohne zum Bett zu sehen. Meine Hand zittert nur ein kleines bisschen, als ich meinen Abschiedsbrief unter der schwarzen Rose herausziehe und einstecke. Ich schlüpfe in Schuhe und Jacke und setze meine Baseballmütze und die Sonnenbrille auf.
Letzter Check: Liegt noch etwas von mir herum? Nein. Meine Fingerabdrücke auf Sarahs Glas und meine DNA überall sind egal. Nach einem Selbstmord schickt die Polizei keine Spurensicherung. Und selbst wenn: Ich bin nicht vorbestraft, nie mit der Polizei in Kontakt gekommen. Sie könnten mit meinen Abdrücken und meiner DNA nichts anfangen. Ein kalkulierbares Risiko also.
Es ist kurz nach zwei. Ich liege gut in der Zeit. Vor vier kommt niemand nach Hause, hat Sarah gesagt. Ehe ich das Zimmer verlasse, sehe ich mich ein letztes Mal um.
Nichts erinnert an mich.
ES REGNET. ICH behalte die Sonnenbrille trotzdem auf und will den Jackenkragen hochschlagen, lasse es dann aber bleiben. Ich bin durchgeschwitzt, und die kühlen Tropfen auf meinen Wangen tun gut. Die Straße sieht noch so aus wie zuvor und ist doch ganz anders. Als ich sie heruntergekommen bin, glaubte ich noch, Sarah sei die Einzige, die heute sterben würde. Aber jetzt, da ich sie wieder hinaufgehe, weiß ich: Das stimmt nicht. Auch ich bin gestorben. Das, was hier langläuft, ist ein Geist. Ein Phantom. Ziemlich strange, dieses Gefühl, aber auch cool.
Bin ich wirklich hier auf der Straße? Oder immer noch bei Sarah und sehe zu, wie sie krepiert? Keine Ahnung, alles ist irgendwie eins. Ich sehe, wie ihre krampfende Hand sich ins Kissen krallt, höre das hohle Keuchen, sehe den irren Blick und die Verzweiflung darin. War es nur die Angst vor dem nahenden Tod, oder war sie auch meinetwegen verzweifelt, weil ich sie derart verraten und betrogen habe? Ich hoffe, es war so. Und ich wünschte, das Ganze hätte länger gedauert. Nie war ich so sehr bei mir wie in diesen Minuten. Kein einziger Gedanke in meinem Kopf, nur pures Sein. Ich hab nicht einmal mehr daran gedacht, warum ich das alles mache. Es war in dem Moment einfach nicht wichtig.
Ein Stoß gegen meine Schulter reißt mich aus meinem Film. »Pass doch auf, Alter!«, bellt es mich an. »Bist du besoffen, oder warum eierst du so durch die Gegend?«
Ich bleibe stehen. Ein Typ im Kapuzenshirt stiert mich an, als hätte ich Aussatz im Gesicht. Kann man es mir etwa ansehen? Ohne was zu sagen, mache ich mich davon. Schaut er mir nach? Folgt er mir? Holt er die Polizei?
Ich wage es nicht, mich umzudrehen.
ICH BIN DOCH zu hastig aufgebrochen. Jetzt, da ich allmählich klarer werde, bereue ich meine Eile. Ich hatte noch Zeit. Zeit, mir den Anblick des Todes auf Sarahs Gesicht einzuprägen und das Glücksgefühl meiner gelungenen Rache zu genießen. Warum habe ich sie nicht genutzt? Schon verliere ich die ersten Details. Die Nuancen. Die Blässe ihrer Haut etwa. War sie mehr grau oder gelb oder wie Elfenbein? Die blicklosen Augen – haben sie wirklich wie verschleiert ausgesehen, oder bilde ich mir das nur ein?
Beim nächsten Mal muss ich mir alles genauer einprägen …
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SASCHA LEHNTE AM Fenster, als ein Laster zwischen den beiden Halteverbotsschildern hielt, die seit ein paar Tagen den Bürgersteig schmückten.
Umzüge Keferloher München Stuttgart Hamburg Berlin
, stand außen auf dem Lkw zu lesen. Das waren wohl die neuen Nachbarn. Hoffentlich sind die besser als die alten, dachte Sascha. Sein Bedarf an lauter Heavy-Metal-Musik zu nachtschlafender Zeit war bis ans Lebensende gedeckt.
Er sah zu, wie drei kräftig gebaute Männer – offensichtlich die Möbelpacker – aus dem
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