Stoer die feinen Leute nicht
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Noch dreizehn Kilometer bis Bramme. Katja gähnte. Schnurgerade lief die asphaltierte Straße durch das Moor. Dünne Birken säumten sie. Dahinter Wiesen, Gräben, Morast. Überall schwarz-weiße Kühe, ab und an ein Pferd. Finnisch-blauer Himmel, weiße Zirruswölkchen. Wieder ein Weiler. Katja nahm den Fuß vom Gaspedal. Moorhausen. Ein halbes Dutzend Gehöfte, ein Gasthaus, verwitterter Backstein. Links ein grauer Wirtschaftsweg, ein Traktor; sie huschte vorüber.
Noch zehn Kilometer bis Bramme. Vorn im bläulichen Dunst ein Geestrücken mit einem rot-weißen Fernsehturm. Ob sie in der Pension fernsehen konnte? Wenigstens Dick und Doof und Buster Keaton. Ein gelb-roter Linienbus; sie zog ihren Karmann Ghia nach rechts auf den Seitenstreifen hinüber. BVB – Brammer Verkehrs-Betriebe. Ein paar großflächige Gesichter, Schulkinder. Ein Engpaß, eine Brücke, unten ein jauchebrauner Fluß – die Bramme.
Bramme. Man mußte die Lippen ein wenig nach vorne schieben, aufeinanderpressen und im gleichen Augenblick, während die Zunge im Mundraum zuckte, mit einem gewissen Schmatzlaut wieder voneinander lösen, um im Bruchteil einer Sekunde ein winziges Quantum Luft auszustoßen und dann die letzte Silbe geradezu hinauszuschleudern. Bram-me. Bram-me. Es klang bäurich und solide, schmeckte irgendwie nach Milch, Sahne und Quark. Und in diesem Drecknest war sie nun geboren worden.
Katja Marciniak, geboren am 15. April 1950 in Bramme.
Ausgerechnet Bramme. Biebusch hätte seine Untersuchung weiß Gott auch woanders durchführen können. Die Auswahl war ja groß genug gewesen: Castrop-Rauxel, Erlangen, Gladbeck, Hamm, Pforzheim, Wolfsburg und Wattenscheid. Aber Biebusch hatte sich für Bramme entschieden. Aus gutem Grund, wie er meinte, denn ein guter Freund von ihm – neuerdings wieder ein guter Freund – war derzeit Bürgermeister von Bramme.
Katja kannte es schon auswendig: Bramme an der Bramme, Stadt in Niedersachsen, mit (1965) 81 300 Einwohnern, hat Amtsgericht, höhere und Berufsfachschulen, Freilichttheater, Heimatmuseum, Industrie: Maschinen, Bekleidung, Nährmittel, Möbel, Fertighäuser.
Vor zwölf Stunden war sie noch den Kurfürstendamm hinuntergeschlendert und hatte anschließend in der Vollen Pulle am Steinplatz Abschied gefeiert. Gefeiert? Der Beaujolais hatte sie eher melancholisch gemacht.
Mensch, nun jammere bloß nicht so viel!
Sei du mal zu sieben Monaten Bramme verurteilt!
Hat dich ja keiner gezwungen, deine Diplomarbeit bei Biebusch zu schreiben.
Ach, geh! Zweihundert Abende in Bramme – ich langweil mich jetzt schon. Da ist doch nichts los.
Habense da nich neulich einen ermordet – so von hinten im Park…?
Das war in Bremen.
Ach so… Na, was nich is, kann noch werden. Vielleicht ermorden se dich – haste mal endlich echtes Neuheitserlebnis.
Hör auf!
Weißte schon, wo de wohnst?
Irgendwo. Ich laß mal von mir hören.
Tu das.
Noch sieben Kilometer bis Bramme. Ein weinroter Volkswagen kam ihr entgegen. Endlich mal ein Mensch. Im Rasthaus vorhin hatten sie ihr diese sogenannte Ortsverbindungsstraße empfohlen.
Ein kleiner Umweg, Fräulein, aber landschaftlich sehr reizvoll.
Ein kleines Gehölz, wuchernde Büsche. Eigentlich müßte man schon was von Bramme sehen können. Vielleicht gab’s das Nest gar nicht. Schön wär’s!
Sie fummelte sich einen Sahnebonbon aus dem Papier und steckte ihn in den Mund. Die armen Zähne. Sie hörte ihre Großmutter: Kind, laß diese verdammten Plombenzieher!
Nun war sie schon seit sechs Wochen tot. Verbrannt – nee, eingeäschert… Sie sah den massigen Stein aus schwedischem Granit. Drei Namen nun schon:
OSKAR MARCINIAK
* 3. 5. 1887 † 12. 7. 1944
HELENE MARCINIAK
* 15.11.1895 † 10. 5. 1972
MARIANNE MARCINIAK
* 3.2. 1930 † 28. 4. 1957
War nur noch Platz für einen Namen. Für ihren. Sie stieß die Luft aus der Lunge. Sechs Stunden Fahrt, über vierhundertKilometer schon. Und nur zweimal angehalten. Ihr Rücken schmerzte. Na, bald war’s ja geschafft. Nur mal zehn Minuten ausgereckt auf einem Bett liegen. Zum Mittagessen war sie schon wieder in Biebusch verabredet.
Was würden die braven Brammer Bürger sagen, wenn da plötzlich vier Soziologen auftauchten und ihre Stadt auseinandernahmen? Das roch ja nach Revolution. Einen Empfang wie für einen Olympiasieger gab’s bestimmt nicht.
Katja bremste unwillkürlich. Sie hatte auf einmal Angst vor Bramme, Angst vor dem Ungewissen. Sie war allein,
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