Stoer die feinen Leute nicht
nur schweben, schweben in einer wohl temperierten Flüssigkeit, die einem alles gibt, was man braucht. Nicht arbeiten, nicht denken, nicht weinen. Wenn’s doch nur einen Sinn hätte! Aber wer interessiert sich heutzutage schon für eine soziologische Untersuchung von Bramme? Noch dazu, wenn Biebusch sie leitete… Was würden sie schon an der Wirklichkeit ändern, wenn sie hier ein dickes Buch schrieben? Nichts. Wenn’s wenigstens ihrem eigenen Image genutzt hätte. Aber den Rahm schöpfte ja nur einer ab: Biebusch. Bernhard Biebusch, Eine Provinzstadt im Spannungsfeld industrieller Entwicklung. Und im Vorwort: Für ihre stets zuverlässige Mitarbeit danke ich Fräulein Katja Marciniak… Blieb ihr als Brosamen die Diplomarbeit. Und dafür zweihundert Tage Bramme? Der erste freundliche Eindruck war blaß geworden, die Euphorie verflogen. Bramme hatte auf einmal etwas Bedrohliches. Es ließ sich nicht denken, es ließ sich nicht aussprechen, aber es war da. Es ließ sich verdrängen, aber es blieb. Wozu das alles? Wenn sie mit dem Studium fertig war, dann heiratete sie, hatte Kinder, wusch Windeln und schälte Kartoffeln. Es war alles so sinnlos, nutzlos, überflüssig… Und irgendwann stand dann ihr Sohn im schäbigsten Pensionszimmer einer armseligen Stadt und suchte seinerseits nach einer Antwort…
Verdammt noch mal, soll er doch! Sie sprang auf, riß den Koffer auf, wühlte nach dem Transistorradio, fand es und drehte den Knopf herum. Ein schnulziger Schlager. I beg your pardon, I never promised you a rosegarden…
Nun gerade!
Ende der Katharsis. Sie fühlte sich erleichtert, beschwingt wie nach einer halben Flasche Portwein, nun doch wieder euphorisch. Adieu, Tristesse! C’est dans les grands dangers qu’on voit les grands courages!
Sie schaltete den Heißwasserspeicher ein und räumte, während das Wasser zu kochen begann, ihren Koffer aus. Im Schrank roch es nach Mottenpulver und ranziger Butter – offenbar hatte sich ihr Vorgänger selber verpflegt. Ach ja, einkaufen mußte sie auch noch. Jeden Abend im Restaurant zu essen, das vertrug ihr Geldbeutel nicht. Trotz der Erbschaft.
Sie wusch sich kurz, Etagenwäsche nannte man das, verbrauchte einiges an Spray und wählte dann ein kurzes Sommerkleid. Leichtes Material, zarter Druck mit viel lichtem Lila, Georgette, ein glockig geschnittener Rock, lange, blusig fallende Ärmel. Fast zu schick für Bramme.
Nachdem sie den Heißwasserspeicher auftragsgemäß abgeschaltet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Biebusch, nicht ohne vorher auf der Treppe Alfons Mümmel mit einem Salatblatt gefüttert zu haben, das Frau Meyerdierks für alle neu angekommenen Pensionsgäste bereithielt – „damit sich das Tierchen an Sie gewöhnt!“
Es war schon kurz nach eins, und Katja beeilte sich, denn einen Biebusch ließ man nicht ungestraft warten.
Die Knochenhauergasse lief schnurgerade auf den Marktplatz zu. Keine fünf Minuten Fußweg. Sie prägte sich die ersten Namen ein. Dr. Hans Harjes, Urologe. Zoohandlung Wachmann. Café Klauer. Dr. Wolfgang Vesshoff, Rechtsanwalt und Notar. Schuh-Dopp. Lichthaus Bruns.
Eine schmale Nebenstraße, der Mönchsgang. Irgendwo mußte auch die Ruine des bekannten Zisterzienserklosters… Dann stand sie auf dem bunt-belebten Quadrat des Marktplatzes.
Der von Tabor oder Budweis war schöner, aber immerhin. Vor ihr das ehrwürdige Rathaus mit seiner angefressenen Renaissancefassade und viel Patina auf dem Dach. Ihr zur Linken das unvermeidliche Kaufhaus mit der bundesweit genormten Aluminiumfassade. Dahinter ein China-Restaurant, Lu Fung oder so. Schräg gegenüber, an der nördlichen Stirnseite des Platzes also, die Redaktion des Brammer Tageblatt und, durch die zum Wall führende Straße von ihr getrennt, die Trutzburg des Stadt- und Polizeihauses.
In der Mitte des Marktes eine Art Conrad-Ferdinand-Meyer-Gedenkbrunnen: Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt er voll der Marmorschale Rund, die, sich verschleiernd, überfließt in einer zweiten Schale Grund…
Katja erreichte den Brunnen und kühlte sich in der zweiten Schale Grund die Finger. Dabei stellte sie fest, daß der Brunnen von Harm Clüver erdacht und errichtet worden war, offenbar dem Universalgenie der Stadt. Auch die Freilichtbühne trug ja seinen Namen.
Vor dem linken Flügel des Rathauses störte ein hölzerner Kiosk die Harmonie des Bildes. Zeitungen, Zeitschriften, Zigaretten, Süßigkeiten, Ansichtskarten, Andenken. Katja überlegte einen Augenblick. Karten
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