Stoerfall in Reaktor 1
ein und schiebt sein Fahrrad in den Carport. Ihm ist schwindlig und seine Knie zittern. Er braucht dringend eine Runde Schlaf, danach ist noch genug Zeit, um darüber nachzugrübeln, wie es jetzt weitergehen soll.
Als er durch die Hintertür in die Küche kommt, sitzen seine Eltern am Tisch, ohne miteinander zu reden. Keiner von beiden blickt hoch, als Lukas unsicher zum Kühlschrank geht und sich ein Tetrapak Milch rausnimmt. Im ersten Moment denkt er noch, sie hätten da schon die halbe Nacht gehockt und auf ihn gewartet, und er überlegt, ob er einfach behaupten soll, er wäre nach dem Konzert noch mit zu Jannik gegangen und da dann aus Versehen eingeschlafen. Oder so. Aber dann bemerkt er die roten, verheulten Augen seiner Mutter, unter denen sich tiefe Schatten abzeichnen, und den starren Blick seines Vaters, der ihr hilflos die Hände streichelt. Mit einem Schlag wird ihm schlecht und er muss sich an der Arbeitsplatte festhalten.
»Ist irgendwas mit Karlotta?«, stöÃt Lukas hervor. »Ist was passiert? Was ist los?«
Sein Vater schüttelt den Kopf. Aber er sagt immer noch nichts. Er nickt nur zu Lukasâ Mutter hinüber und macht für einen Moment die Augen zu, als wolle er Lukas zu verstehen geben, dass er ganz ruhig bleiben soll. Dass seine Mutter nicht in der Verfassung ist, irgendwas zu sagen, aber dass nur sie erklären kann, was los ist. Und dass Lukas nicht drängeln soll, sondern abwarten.
Aber irgendwas muss passiert sein, denkt Lukas, und sie sind beide so neben der Spur, dass sie noch nicht mal richtig mitgekriegt haben, dass ich eben erst nach Hause gekommen bin.
Er stellt die Milchtüte auf die Spüle und hockt sich neben seine Mutter.
»Hi«, sagt er leise, »ich binâs.«
Wie blind streckt seine Mutter die Hand aus und streicht ihm über die Haare. So leise, dass er sie kaum verstehen kann, sagt sie zu Lukasâ Vater: »Erzähl du es ihm â¦Â«
Lukasâ Vater räuspert sich. »Die kleine Leonie ist heute Nacht gestorben«, sagt er leise. »Heute Nacht, im Krankenhaus in Hildesheim. Deine Mutter sitzt hier, seit sie die SMS mit der Nachricht bekommen hat.«
»Was?«, sagt Lukas irritiert. »Sie haben mitten in der Nacht noch eine SMS geschickt? Was soll das? Das ist doch â¦Â«
»Wir wussten, dass es schlecht aussieht«, unterbricht ihn seine Mutter. »Wir hatten das so abgesprochen, dass sie gleich Bescheid sagen, wenn ⦠Aber wir haben alle gehofft, dass sie es schafft! Sie hatte eine Lungenentzündung bekommen vom ständigen Liegen, und ihr Körper war zu geschwächt, um das zu überstehen. Um kurz nach Mitternacht ist sie ⦠eingeschlafen.«
Lukas weiÃ, wen seine Mutter mit »wir« meint. Es gibt eine Art Selbsthilfegruppe in Wendburg, von den Eltern, deren Kinder an Leukämie erkrankt sind. Und Leonie ist das Mädchen, das schon am längsten krank ist. Krank war, korrigiert er sich im Stillen. Sie war nur ein paar Monate älter als Karlotta, und das letzte Mal, als er sie gesehen hat, war sie so von der Chemo gezeichnet, dass er sie kaum erkannt hat. Eigentlich nur noch ein Gerippe, das von straff gespannter, wie Pergament wirkender Haut überzogen war, mit einem Kopf, der durch die Glatze unnatürlich groà wirkte.
Lukasâ Mutter wischt sich mit der Hand über die Augen. »Entschuldige«, sagt sie zu Lukas. »Ich wollte nicht, dass du mich so siehst. Aber jetzt geht es schon wieder. Ich musste nur ⦠ich konnte nicht schlafen.« Sie greift nach der Hand von Lukasâ Vater. »Danke.«
»Nimm am besten eine Tablette«, sagt Lukasâ Vater. »Und dann legst du dich erst mal hin. Ich bring dich hoch. Und wenn was mit Karlotta ist, bin ich ja da. SchlieÃlich ist heute Sonntag.«
»Schöner Sonntag«, antwortet Lukasâ Mutter, während sie aufsteht und den Stuhl zurückschiebt.
Lukas streicht ihr mit der Hand über den Rücken.
»Mach dir keine Gedanken um mich«, sagt seine Mutter. »Versuch auch, ein bisschen zu schlafen.« Dann stutzt sie. Noch bevor sie ihre Frage stellt, weià Lukas schon, was kommt. »Wo warst du überhaupt? Du bist doch nicht etwa eben erst nach Hause gekommen?«
Lukas holt tief Luft. »Nee, nicht wirklich, aber â¦Â«
»Ist doch okay«, mischt sich sein Vater unerwartet ein. »Bestimmt irgendeine Party. Aber jetzt ist er ja
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