Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
sie Jüdin war, schrieb mir meine Londoner Briefpartnerin, habe sie unter Hitler aus Berlin getrieben. Freiwillig hätte sie diesen Entschluß nicht gefaßt: sie, tief verwurzelt in ihrem Arbeits- und Freundeskreis, so begierig auf Nähe, Wärme, Zustimmung. Man stelle sich eine Ärztin, eine Psychologin in fremdem Sprachbereich vor. Es sei auch so gekommen, wie sie es vorausgesehen hatte: Heimisch sei sie nirgends mehr geworden. Doch jeder Augenblick ihres Lebens habe sie seitdem bis an den Rand ihrer Kraft gefordert, alle paar Jahre habe sie einen neuen Arbeitsbereich für sich erfinden müssen. So daß das Unheil, das sie vor mehr als einem halben Jahrhundert ins Exil gestoßen habe, sich im Laufe ihres langen Lebens ganz allmählich für sie in eine glückliche Fügung verwandelt habe.
    Sie, habe ich gedacht, sie ganz allein hat das Unheilverwandelt. Mir ist der Gedanke gekommen, ich könnte, auf der Suche nach den Wurzeln unserer Zerstörungslust, auch in ihrem Buch über die menschliche Hand nachsehen, das griffbereit im Regal steht –
    Deine Hände, Bruder, weiß ich auswendig, kann sie mir jederzeit vorstellen. Sie werden jetzt magerer und auf eine schwer zu beschreibende Weise älter werden, nehme ich an. Ich glaube zu wissen, wie sie da auf der Decke liegen, das einzige, womit du dich zu erkennen gibst, da der Kopf umwickelt ist, krank, wehrlos, ohnmächtig. Oft und oft haben wir unsere Hände nebeneinander auf ein Stück Papier gelegt, du deine Rechte, ich meine Linke, und haben, ein jeder mit einem Stift in seiner freien Hand, ihren Umriß nachgezogen. An Größe sind deine Hände den meinen allmählich nachgekommen, aber ihre Umrisse sind so verschieden geblieben, daß man keinen Fachmann dazu brauchte, uns unsere unterschiedlichen Charaktere und Neigungen aus der Hand zu lesen –
    Die menschliche Hand, habe ich in dem Buch gefunden, entwickle jenes Geflecht hoch bezeichnender Linien, das sie, zum Beispiel, von der Hand des Menschenaffen unterscheide. Wieder habe ich, fasziniert wie beim ersten Mal, die Abbildungen der Affenhände betrachtet, die keine individuellen Merkmale aufweisen, sondern die alle nur durch jene quer in den Handteller eingeschnittene »Affenfurche« gekennzeichnet sind – ein Anblick,der mich aufs neue melancholisch gemacht hat, so als müsse der Affe gefangen sein in einer kreatürlichen Trauer über das Mißglücken seiner Menschwerdung. Und als hielte er uns als Zeichen dieser Trauer und als hilflose Bitte um unser Mitgefühl seine Handflächen hin. Auch der Vor-Mensch mag, noch ehe er sprechen konnte, mit aufgehobenen Händen auf ein anderes Mitglied seiner Horde zugegangen sein, zum Zeichen für seine Friedfertigkeit. Doch erst mit Hilfe der Sprache, die alsbald, also wohl nach Hunderttausenden von Jahren, diese Droh- und Demutsgebärden ergänzte, uns aus der Instinktgebundenheit befreite und uns endgültig die Überlegenheit gegenüber den Tieren gab – ausgerechnet mit Hilfe der Sprache scheinen sich dann die Menschen der einen Horde von denen der anderen Horde abgegrenzt zu haben: Der Anderssprechende war der Fremde, war kein Mensch, unterlag nicht dem Tötungstabu. Diese Überlegung kommt ungelegen. Sprache, die Identität schafft, zugleich aber entscheidend dazu beiträgt, die Tötungshemmung gegen den anderssprechenden Artgenossen abzubauen. Die gleiche Sprache, die den Sprung in den »vollmenschlichen« Zustand markiert, Bewußtsein öffnend, dabei bisher Bewußtes ins Unbewußte drängend: Die »Brillanz unserer jüngsten evolutionären Errungenschaft, die verbalen Fähigkeiten der linken Hemisphäre,« verdunkeln also, »wie Sonnenlicht den Sternenhimmel, unser Bewußtsein für die Funktion der intuitiven rechten Hemisphäre, diebei unseren Vorfahren das Hauptwerkzeug zur Wahrnehmung der Welt gewesen sein muß.« Das Doppelgesicht der Sprache ...
    Meine alte Londoner Freundin, meine Namensvetterin (ein zufälliger Umstand, der uns in Verbindung gebracht hat) ist, wie ich inzwischen weiß, an dem gleichen Tag, an dem ich anfing, über sie zu schreiben, gestorben. Nun also doch erschöpft. Nun also doch meinem Wunsch, sie einmal wenigstens zu sehen, für immer entrückt. Eines ihrer ersten Bücher liegt vor mir, in deutscher Übersetzung. (Die Sprachbarriere solle man sich nicht zu harmlos vorstellen, hatte sie mir einmal geschrieben.) Wieder lese ich die Beschreibung ihrer ersten Emigrantenzeit in England, ihrer kaum verhohlenen Verzweiflung über die

Weitere Kostenlose Bücher