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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Aussichtslosigkeit, einander zu verstehen – ein Übel, dem ihr immer korrekter werdendes Englisch offenbar nicht abhelfen konnte, weil es ja unter der Sprachschicht steckte, und ich habe ihr letztes Buch in die Hand genommen, das mich am gleichen Tag erreicht hat wie ihr letzter Brief, es ist in englisch geschrieben wie ihre Autobiographie, in der ich auf die Sätze gestoßen bin: »But in the social plight of our age we have to reconcile ourselves to half measures. We are forced to use our multiple personalities like players acting different plays. We have to hide our authentic Self under a mask, and act a part in order to come to terms with a stereotyped social code.« 1 Istes so? So ist es. Schreibend, Bruder – weil du gefragt hast –, haben wir mehr und mehr die Rolle des Schreibenden zu spielen und uns zugleich, indem wir aus der Rolle fallen, die Masken abzureißen, unser authentisches Selbst hervorschimmern zu lassen – hinter Zeilen, die, ob wir es wollen oder nicht, dem sozialen Code folgen. Diesem Vorgang gegenüber sind wir meistens blind. Ein Tag wie dieser, paradox in seinen Auswirkungen, zwingt uns, zwingt mich, Persönliches nach außen zu kehren, das Widerstreben zu überwinden.
    In dem großen Umschlag, den ich zuletzt geöffnet habe, sind Texte gewesen, die Schweizer Frauen herausgesucht hatten, um sie als Plakate am Hiroshima-Gedenktag aufzustellen. Kaum habe ich mich noch wundern können, daß es Texte zum Thema »Sprachverwirrung« gewesen sind – daran gewöhnt, daß in gewissen dringenden Fällen alles mir zuarbeitet. »Es hatte aber alle Welt einerlei Sprache und einerlei Worte«, habe ich gelesen, und mir ist es so vorgekommen, als würde ich diesen sehr alten Text zum erstenmal lesen. »Und sie sprachen: Wohlan, laßt uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitzebis in den Himmel reicht ...« Gegen den Geruch der Hybris aber scheint DER HERR sehr empfindlich zu sein. Unverzüglich fährt er hernieder und spricht: »Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.« Woraufhin er ihre Sprache verwirrt und so bekanntlich den Turmbau verhindert. Auffälligerweise wendet er im Fall des größenwahnsinnigen Kaisers Nimrod das gleiche Mittel an: Auch dieser läßt sich ja, als weithin leuchtendes Zeichen seiner Selbstüberhebung, einen Turm bauen, der schon so hoch ist, »daß es ein ganzes Jahr währte, ehe der Lehm und die Ziegel den Maurer oben erreichten«. Während sie aber bauten, »schossen sie mit Pfeilen gen Himmel, und die Pfeile fielen blutgefärbt zurück. Da sprach einer zum anderen: Nun haben wir alles, was da oben ist, getötet. Aber dies war vom HERRN so angestellt worden, um sie zu verwirren und zu vernichten von dem Angesicht der Erde. Und er tat dies, indem er ihre Sprache verwirrte, daß einer die Worte des anderen nimmer verstehe.« Wie wichtig DER HERR die Sprache nimmt. Wie er danach trachtet, daß sie kein Instrument seiner Untergebenen wird, sich gegen ihn zusammenzuschließen. Wir hingegen verstehen alle die basic language, mit deren Hilfe wir unsere Türme aufrichten, habe ich denken müssen, aber das nützt uns nichts; und wir kennen alle die technische Stimme, die aus einem Apparat kommt, und wir zählen mit, wenn sie jenen anderenApparat, den Turm mit Raketenantrieb, in den Himmel schickt, der aber nun nicht mehr Himmel heißt, sondern Kosmos: Five – four – three – two – one – ZERO ! Nur manchmal stürzen die Türme wieder herunter, mit ihrer blutigen Fracht –
    Das ist einer der Tage gewesen, an dem mir alle Zeichen eingefallen sind, die wir schon zu sehen gekriegt haben, ohne sie zu verstehen. Ich habe mich hingesetzt und dir einen Brief geschrieben, Bruder, mit großen Buchstaben, für deine noch geschwächten Augen, und ich habe Worte wie »Neubeginn« und »Wiedergeburt« hineingeschrieben und habe mich an sie glauben gemacht, obwohl ich mich fragen mußte, ob es Trotz ist, daß ich auf ihnen beharre, oder die Unfähigkeit, mich den neuen Gegebenheiten wirklich zu stellen, oder ob ich es einfach für angebracht gehalten habe, deinen Genesungswillen zu stärken, und sei es durch ein bißchen Täuschung. Flüchtig ist mir der Zusammenhang zwischen dem Wort Täuschung – noch besser: Selbsttäuschung – und dem von mir in immer engerem Zirkel umkreisten »blinden Fleck« aufgetaucht –
    aber zuerst habe ich mir noch die

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