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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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fünfundvierzig, mit seiner Mutter und seinen Geschwistern als Flüchtling in einem Zimmer dieses Hauses gewohnt. Ja: Dieses Haus müsse es gewesen sein, hat er, als könnte ich es ihm bestätigen, halb fragend wiederholt: diese Lage, leicht erhöht. Die Linden. Die Steintreppe mit der Einfassung links und rechts, die zu einer Veranda führe ... Und das Dorf, da sei er sich ganz sicher, das Dorf war es auch. Er sei ja damals ein Kind gewesen, aber gewisse Dinge hätten sich ihm doch unauslöschlich eingeprägt, und da sie nicht so weit weg an der Küste wohnten, hätten sie sich endlich einmal aufgemacht, um der Tochter dies alles zu zeigen. Offengestanden habe er aber noch einen anderen Grund gehabt, hierherzukommen. Er glaube nämlich, daß auf diesem Grundstück damals seine kleine Schwester begraben worden sei, als sie an Typhus gestorben war. Typhus hätten sie ja alle damals gehabt.– Ja, habe ich gesagt, das stimmt. Das weiß ich. Aber obwohl jeder, der sich auf den Typhus des ersten Nachkriegsjahres beruft, bei mir auf Verständnis rechnen kann, habe ich doch einen Unmut gegen diesen Mann gespürt. Was gab ihm das Recht, die Gebeine seiner kleinen Schwester hier, auf unserem Grundstück, zu vermuten; wie kam er dazu, mir das zu sagen. Ich habe absolut nicht wissen wollen, wer hier vielleicht, in eine Decke gewickelt oder einfach in einen Pappkarton gesteckt, vor vierzig Jahren begraben worden war, ich habe nicht wissen wollen, daß seine Schwester Anneliese hieß, daß sie erst drei Jahre alt war und daß sie einfach nichts für sie zu essen hatten, ich kenne diese Geschichten, ich bin dabeigewesen, du, Bruder, bist im Typhuskrankenhaus in H., in dem ich vor dir eingeliefert wurde, zum Skelett abgemagert, fast habe ich dich nicht erkannt, als ich endlich die dreißig Schritte den Gang hinunter bis zu deinem Zimmer laufen konnte, nun soll dieser Mann in seinem olivgrünen Mäntelchen mich mit seiner Schwester Anneliese in Ruhe lassen, ich bin hierhergekommen, um ruhig zu schlafen, ich brauche die Beschreibung von verhungernden kleinen Mädchen nicht. Ich habe sie absolut nicht hören wollen. Ich habe den Mann, den plötzlich, anscheinend für ihn selbst unerwartet, die Erinnerung, fast die Rührung überkam, beinahe grob unterbrochen. Ich habe ihm gesagt, der Friedhof liege so nahe, kaum weiter als hundert Meter, daß es mehr als unwahrscheinlich sei, daß ein Kind nicht dort, sondern aufdem Privatgrundstück des Pfarrers beerdigt worden sein solle. Ich habe den Mann unsicher gemacht. Wenn Sie meinen, hat er gesagt, und ob es denn noch einen Pfarrer gebe, den man vielleicht fragen könnte. Nein, habe ich gesagt, die Kirche sei zwar ein Baudenkmal, aber kein arbeitendes Gotteshaus mehr, der Pfarrer sei blutjung und wohne in einem Nachbardorf, kaum jemand werde ihm etwas über die Zeit von fünfundvierzig sagen können. Ich habe gedacht, wenn ihm schon an seiner Schwester lag, hätte er keine vierzig Jahre warten müssen, gleichzeitig habe ich verstanden, daß im Leben dieses Mannes eine Art Lücke eingetreten sein konnte, in der plötzlich das Gesicht und die kleine Gestalt der verhungerten Schwester wieder auftauchte. Aber ich habe ihm da nicht helfen können, und das Grüppchen von drei Leuten ist dann zu meiner Erleichterung in Richtung Friedhof davongegangen. Ich habe mich umgedreht und im Gegenlicht, weil die Sonne schon hinter das Dach gerutscht war, das Haus liegen sehen, und sein Gesicht, das mir bis dahin fast immer freundlich erschienen war, hatte sich zur Fratze verzerrt. Da ich es mir abgewöhnt hatte, Augenblicksstimmungen nachzugeben, habe ich mir dieses in Wahrheit gräßliche Gefühl mit einer Überanspannung, mit einer seelischen Erschöpfung erklärt und bin ohne zu zögern ins Haus gegangen. Aber vergessen habe ich diesen Augenblick nicht mehr können, auch wenn ich es schon lange gewußt habe, daß jede Haut reißen und aus den Rissen dieUngeheuer quellen können. Daß das Stützwerk hinter den Fassaden von Zeit zu Zeit zusammenzubrechen pflegt; daß ganze Wegstücke unmittelbar vor uns ins Bodenlose zu versinken lieben.
    Leider, habe ich gedacht, während ich angefangen habe, im Haus umherzuwandern, leider ist meine frühe Kindheit darauf angelegt gewesen, mir die Überzeugung einzupflanzen, daß mein eigenes Befinden und der Lauf der Welt in einer wohlwollenden Art miteinander verknüpft sind, und als jene kleine Schwester, die vielleicht doch irgendwo auf dem Grundstück, das ich nun aus

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