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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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herzzerreißende Trauer immer angefangen, und oft und oft habe ich versucht, dir deinen Durst auszureden, aber wir wußten ja beide, wie das Märchen ging, und wir konnten nichts daran ändern. Du wurdest ganz wild vor Durst und betteltest so lange um einen Schluck Wasser, bis ich dir erlauben mußte, unter Jammern und Wehklagen, aus dem letzten Brunnen zu trinken. Es war der Wasserhahn in unserer Küche, und nun wurdest du, wie uns angedroht worden war, ein Reh, was ja schlimm genug, aber immer noch besser war, als wärest du ein Tiger oder Wolf geworden und hättest mich in Stücke gerissen. Ich legte dir märchengerecht ein Band um den Hals und führte dich als Reh durch unsere ganze Wohnung, die ein dichter, undurchdringlicher Wald war, und wir fürchteten uns entsetzlich, bis wir unter dem Tisch das Obdach gefunden hatten, in dem wir beide zusammen friedlichleben wollten, Brüderchen und Schwesterchen. Es war ein Verhängnis, daß man entweder verdursten oder sich in ein wildes Tier verwandeln sollte, und ich habe dir, Brüderchen, oft und oft vorgehalten, daß ich, Schwesterchen, mich doch auch bezähmen konnte; daß ich, obwohl so durstig wie du, doch auch nicht unbedingt trinken mußte. Du aber mußtest unbedingt trinken, und du mußtest, trotz meiner Tränen und Bitten, in den Wald hinaus, als die Jagd vorbeikam, und so bist auch du es gewesen, der den fremden Königssohn bis an unseren Unterschlupf geführt hat, den ich doch gar nicht zum Mann wollte, denn ich wollte nur dich, Brüderchen, und sei es als Reh, und nachts lagen wir wach und fragten uns flüsternd, ob es denn menschenmöglich sei, daß auch unsere Mutter in Wirklichkeit eine Stiefmutter sei, und wir schworen uns, uns nie, niemals trennen zu lassen, aber eines Nachts fragtest du mich, ob ich nicht etwa die falsche Schwester sei, die die böse neidische Stiefmutter dem König untergeschoben hatte, ohne daß er oder irgendeiner etwas davon merkte, und da mußte ich zur stärksten Formel greifen, die wir kannten und die wir für die allerdringendsten Notfälle aufhoben: Tot umfallen will ich, wenn ich nicht die richtige Schwester bin. Darauf schwiegst du ein Weilchen, Brüderchen, und fragtest dann vorsichtig: Bist du tot umgefallen?, und ich sagte, Trauer, Trauer im Herzen: Nein. – Da war nun bewiesen, was eines Beweises nie hätte bedürfen sollen. Was macht mein Kind / was macht mein Reh ... Ach,diese frühe Anfälligkeit für den traurigen Vers. Diese frühe Angst vor der schlimmen Kehrseite unserer Natur, von der wir uns nie anders als durch Mord und Totschlag befreien konnten. Die falsche Schwester ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen; die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt wieder. Schwesterchen und Brüderchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.
    Der Tag ist makellos geblieben bis zu seiner letzten Minute. Als ich, nun doch das Rad schiebend, weil ich die Steigung nicht fahrend überwinden konnte, beim Transformatorenhäuschen wieder ins Dorf gekommen bin, ist die Sonne noch zwei Handbreit über dem Horizont gestanden, alle Umrisse sind zum Abend hin deutlicher, die Farben noch kräftiger geworden. Ehe man nicht hier gewesen ist, kann man nicht wissen, welche Schattierungen von Grün es gibt. Vor den Dorfhäusern haben links und rechts, jede einzeln für sich, die übriggebliebenen alten Frauen gesessen, die gichtigen Hände im Schoß verschränkt, den Kopf gesenkt, einen Punkt vor sich auf dem Boden fixierend. Sie haben meinen Gruß kaum erwidert. Wird das Dorf in einigen Jahren leer sein?
    Als ich zwischen den zwei mächtigen Linden auf unser Grundstück gefahren bin, habe ich ein kleines Grüppchen von Leuten auf der Wiese vor dem Hausstehen sehen. Im Näherkommen habe ich erkannt, daß es sich um eine Familie handelte, Mann, Frau, fast erwachsene Tochter. An der Art und Weise, wie sie sich jetzt umsahen, sich dann in Richtung auf den Garten in Bewegung setzten, habe ich gemerkt, daß sie etwas suchten, und habe ein Mißfallen an ihrer Anwesenheit unterdrücken müssen. Ich habe mein Rad an die Stallwand gelehnt und bin über die Wiese ihnen nachgegangen. Ob sie etwas Bestimmtes wollten, habe ich sie gefragt, wie erschrocken drehten sie sich um, leicht verlegen hat der Mann – ich habe ihn auf fünfzig geschätzt – mir erklärt, er habe damals,

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