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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zuwächst, habe ich gesagt: Du kommst auch noch dran, warte nur. Dabei weiß ich von früheren Gelegenheiten, daß man Franzosenkraut, wenn es sich einmal auf einem Grundstück festgesetzt hat, niemals wieder vertreiben kann. Zur vollen Stunde habe ich aus meinem kleinen Radio gehört, man tue gut daran, heute, falls man denn unbedingt im Garten arbeiten müsse, dabei Handschuhe anzuziehen, und ich habe mich einen Laut ausstoßen hören, der einem irren Triumphlaut nahegekommen ist, während ich eifrig weiter mit meinen bloßen Händen das Unkraut gerupft habe. Das wollen wir doch mal sehen, habe ich dazu gesagt –
    Ob sie zu diesem Zeitpunkt in deinem Kopf, Bruder, schon mit Katzen- oder Schafsdarm gearbeitet haben, einem Nähmaterial, das sich späterhinselbst zersetzt, das weiß ich natürlich nicht, bezweile es stark. Es ist noch zu früh dazu gewesen, es ist noch darum gegangen, zum Beispiel die Verbindung zwischen der Hypophyse und dem Gehirn zu erhalten. Was, um vorzugreifen, gelungen ist. Und dabei trotzdem »radikal« vorzugehen, was in einem Fall wie dem deinen nur bedeuten kann, den Tumor, der sich sehr, sehr nahe bei der Hypophyse eingenistet hatte, mit Stumpf und Stiel, und zwar bis auf seine letzte Zelle, herauszuschälen aus seiner gesunden Umgebung. Und dabei in jeder Sekunde im Auge zu behalten, daß ein jeder Quadratmillimeter dieser Umgebung hochsensibel ist. Daß seine Beschädigung jene befürchteten »Ausfälle« verursachen kann, deren Opfer du in anderen Krankenzimmern beobachten konntest und über die wir uns nur in halben Worten verständigt haben. Anstatt mich darauf einzulassen, habe ich mich lieber den Brennesseln zugewandt –
    nun allerdings doch mit den rosa Gummihandschuhen an den Händen. Eine unbeschreibliche Genugtuung ist es ja, mit der rechten Hand eine Brennesselstaude zu packen, mit dem linken Zeigefinger unterirdisch ihrem Wurzelverlauf zu folgen, bis man einen günstigen Punkt findet, von dem aus man den kräftigen, tiefen, verzweigten Wurzelstock beharrlich und behutsam in seiner ganzen Länge aus der Erde ziehen kann. Das hätten wir. Du richtest kein Unheil mehr an; während ich gleichzeitig, wortlos, in einer tieferen Schicht meines Bewußtseinsirgendeinem Herrn der Brennesseln oder einem für größere Zusammenhänge zuständigen Naturgeist versichert habe, daß ich nicht beabsichtigte, alle Brennesseln zu bekämpfen; daß ich sehr wohl wisse, daß fünf Falterarten auf die Brennesseln angewiesen seien, als Nahrungsquelle. Und daß diese Falter bei uns noch immer ihr Auskommen haben würden. Ganz etwas anderes aber ist es mit jenem Gewächs, dessen Namen ich nicht einmal weiß, ein klebriges, zielbewußtes Kraut, das an einem einzigen Wurzelfädchen hängt und dem man die Zähigkeit, mit der es sich in der Erde verankert, nie zutrauen würde. Die Blättchen, die es hervortreibt, könnte man für Nadeln halten. Nachdem es im vorigen Jahr zum erstenmal in der Aussichtslücke zwischen den Holundersträuchern aufgetreten ist, scheint es dieses Jahr den ganzen Grünstreifen hinter dem Haus erobern zu wollen, besonders den frisch aufgeworfenen Hügel, auf dem das neugesäte Gras noch kaum herauskommt, wohl aber, und zwar in Massen, dieses vermaledeite Kraut. Dir werd ich! habe ich laut gesagt. Dir werd ich! – So hat mein Großvater mütterlicherseits gesprochen. Daß dich der Deikert! Wie mag mein Großvater sich den Teufel vorgestellt haben. Dich, sage ich zu dem Kraut, dich rotte ich aus. Das versprech ich dir. Ohne Rücksicht auf die Erhaltung der Arten.
    In Kiew bin ich einmal in meinem Leben gewesen, just im Mai. Ich erinnere weiße Häuser. Abfallende Straßen. Viel Grün, Blüten. Das Denkmal auf demHügel über dem Dnjepr für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Das alles verblaßt, vermischt mit ähnlichen Bildern aus anderen Städten. Verblaßt auch die Erinnerung an eine Liebe, die damals frisch gewesen sein muß. Einmal, bald, wird mir alles zur Erinnerung geworden sein. Einmal, vielleicht schon in drei, in vier Wochen – möge es schnell gehen! –, wird auch die Erinnerung an diesen Tag ihre Schärfe verloren haben. Unvergeßlich: der Blick über den Dnjepr, ein östlicher Strom. Der Bogen des Flusses. Jenseits die Ebene. Und der Himmel. Ein Himmel wie dieser, reines Blau.
    »... daß die Mütter entgeistert den Himmel durchforschen nach den Erfindungen der Gelehrten ...« Nun ist es soweit. Aber da können sie lange suchen, sie sehen nichts. Allein der

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