Störgröße M
wie damals: Unternehmen »Exodus«. Offiziell! Der Volksmund nannte es weniger vorsichtig den Auszug ins Gelobte Land. Das war weniger neutral, dafür etwas mehr ironisch. Ein Wunder blieb es so oder so.
Der C-Effekt war in der Tat ein Wunder, an das zu glauben schwerfiel. Die Beherrschung der Materie! Umwandlung von Energie in Materie. Vollständige Umwandlung von Materie in Energie. Der Kreislauf war geschlossen. Gold aus Sand. Sonnenenergien aus Wasser. Der neue Prometheus! Niemand hatte ihn prophezeit. Unerkannt war er geboren und herangewachsen. Er hatte Giftstoffen und Müll getrotzt und der unterirdischen Enge.
Eine Raumflotte von Zehntausenden von Giganten würde sich über das Chaos erheben, über das Erbe der Marktwirtschaft, über die Hinterlassenschaft der Unvernunft.
Vom Ort ihres Entstehens hatte sich die Krebsgeschwulst des Mülls ausgebreitet. Die Konsumgesellschaft hatte Tochtergeschwülste erzeugt, und der Abfall hatte schließlich den gesamten Organismus der Erde mit Aussatz befallen und zerstört. Nun war er vollkommen verdorben und verdorrt, seit Jahrhunderten faulend. Menschliches Leben war allein in den unterirdischen Refugien möglich, und längst fehlte den Überlebenden, knappen eineinhalb Milliarden, die Kraft, den Kampf aufzunehmen. Ihre Hoffnung war allein die neue, schöne Welt. Ihren Glauben erneuerten Propheten. Sie sprachen nicht vom Messias. Der Name Prometheus fiel nicht. Cerpendeel haßte diesen Namen. Er verpflichtete. Vielleicht zu neuen Wundern. Er würde nicht die Kraft haben. Mehr konnte er nicht geben.
Vor ihnen lag eine lichte, kosmische Zukunft. Er hatte das Seine getan. Sie würden aufbrechen und ankommen – und er mit ihnen.
Der Beifall war nicht frenetisch. Doch selbst im akademischen Trommeln der Knöchel äußerte sich die Hoffnung, wenigstens die Erwartung. Dann stellte sich eine unnatürliche Stille her.
Etwas Einmaliges in der Geschichte der Wissenschaft trat ein. Niemand stellte eine Frage. Niemand äußerte Zweifel, Einwände, wissenschaftliche Bedenken.
Hunderte von Forschern, von an kritische Vernunft gewöhnte Menschen waren sich in ihrer Zustimmung so einig wie vorher in ihrer Ablehnung.
Das Schlußwort des Vorsitzenden feierte ihre Zukunft und Cerpendeel. Dem Genie wollten sie folgen. Es würde sie führen. Und dereinst würde es nicht heißen, am Anfang war das Chaos, sondern am Ende. Per aspera ad astra! War der Pfad wirklich rauh? War das Ziel licht? Gleichviel, die Welt war grenzenlos geworden, die Menschheit grenzenlos in ihren Möglichkeiten. Er hatte den Pfad geebnet. Also vertrauten sie ihm. Das Ziel war beschlossen. Das Ziel ist gut. Was ich tun konnte, habe ich getan, dachte Cerpendeel erleichtert.
Strukturlos raste die Wand des Stollens vorüber. Unter ihm vibrierte der Sitz. Er fühlte sich auf eine köstliche Art ermüdet. Es war keine Müdigkeit, die Schlaf fordert. Er hätte nach Hause gehen können in die leere Wohnung, die ohne Undine leer war. Er hätte in den Park der Stadt gehen können, einsam. Denn ohne Undine war er einsam. Er hätte Freunde besuchen können. Sie würden mit ihm über die neue Erde reden oder über Undine. Zwischen ihren euphorischen Ausrufen würden sie lächeln. Er würde wie immer Undine verteidigen. Es würde sie niemand eine Närrin nennen, aber er würde sie ein romantisches Mädchen nennen. Er würde ihren romantischen Spleen erklärend verteidigen. Er würde sagen, ihre Sehnsucht nach der Erde sei eben die des Reisenden. Geboren worden sei sie auf fernen Planeten, im Raum zwischen den Sternen, während der Momente, wenn das Nichts fühlbar wird, nämlich endlos, wenn die Leere einen auflöst, wenn man einen Halt sucht – egal, wie er aussieht –, Boden unter den Füßen, stinkenden, irdischen Boden, zu Häupten, Erinnerungen vor Augen, Reminiszenzen an eine märchenhafte Vergangenheit. All das würde er zu ihrer Verteidigung vorbringen, und sie würden wie Freunde verzeihend lächeln.
Sollte er sich für die Einsamkeit entscheiden, die keine war? Sollte er sich für die Geselligkeit entscheiden, die keine war? Er entschied sich für die Pflicht. Wie lächerlich, gab er vor sich zu, wie lächerlich, an eine Entscheidung zu glauben, die der kategorische Imperativ des Worts mir abnimmt. Pflicht.
Undine würde umdenken müssen. Das war ein kleines Opfer. Eigentlich, machte er sich klar, ist umdenken kein Opfer. Was mehr als eine liebgewordene Gewohnheit opfert man? Undine würde sich schnell an die
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