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Stoff für viele Leichen

Stoff für viele Leichen

Titel: Stoff für viele Leichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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Gleichgültigkeit und ohne jeden Geschmack. So
was Ähnliches hatte derjenige versucht, der den Hut angefertigt hatte, mit dem
Schleier über der entstellten Gesichtshälfte. Das hätte furchtbar lächerlich
sein können. War es aber nicht.
    „Setzen Sie sich doch bitte“, sagte ich.
    Hélène schob ihr den Sessel hin und verschwand
dann in ihrem Büro. Die Jüdin setzte sich nicht. Über den mit Schriftstücken
überhäuften Schreibtisch nahm sie meine Hände und drückte sie.
    „Nestor Burma“, sagte sie lächelnd.
    Sie hatte hübsche Zähne. Ihr Lächeln paßte dazu.
Schien überrascht, daß ich vor Freude nicht an die Decke sprang. Nachdem sie
meine Hände losgelassen hatte, setzte sie sich.
    „Sie erkennen mich nicht“, sagte sie und wiegte
den Kopf hin und her. „O ja! Ich hab mich verändert. Mehr als Sie sich. Sie
sind fast derselbe geblieben, mein Lieber. Gratuliere!“
    Ich verbeugte mich und setzte mich wieder.
    „Aber an meinen Namen hätten Sie sich erinnern
können“, fuhr sie mit etwas brüchiger Stimme fort. „Esther Lévyberg“, fügte sie
noch hinzu, jede Silbe betonend.
    Ich sah sie an und kramte, gründlicher als vorher,
in meinem Gedächtnis nach diesem Namen. Weit weg, verteufelt weit weg, so in
den Jahren 1929 — 30, schlummerte sanft eine Erinnerung, die nicht so recht
aufwachen wollte.
    „Esther Lévyberg?“ murmelte ich.
    „Ja.“
    Sie lachte, machte eine weitausholende Bewegung,
was mich an eine Kehrmaschine der Städtischen Straßenreinigung erinnerte.
    „...Ich hätte schon vor einiger Zeit zu Ihnen
kommen können, aber wir haben uns unter solchen Umständen getrennt, daß...na
ja...“
    Der andere Arm fegte mit derselben Bewegung in
die entgegengesetzte Richtung.
    „...Und dann hab ich Sie bis jetzt noch nicht
gebraucht. Ich bin offen, nicht wahr? Bin ich immer. Ich bin sozusagen die
personifizierte Offenheit ..
    Sie lachte wieder.
    „...Nestor Burma! Wer hätte gedacht, daß Sie
einmal Detektiv werden würden? Und jetzt sind Sie einer, und ich brauche Sie,
weil...weil...“
    Sie machte eine kurze Pause.
    „...Moreno ist zurückgekommen“, sagte sie dann,
beinahe bühnenreif.
    Die Erinnerung gähnte, reckte sich, trat aus dem
Nebel der verflossenen Jahre. Wie ein Floh im Fell einer Angorakatze nistete
sie sich in meinem Gedächtnis ein.
    „Alice!“ rief ich.
    Ich stand auf, ging um den Schreibtisch herum,
nahm die Hände meiner Besucherin in meine und drückte sie herzlich.
    „Na endlich“, sagte sie. „Sie haben ganz schön
lange gebraucht. Ich möchte wissen, ob Sie ein so guter Detektiv sind, wie
erzählt wird.“
    „Meine liebe Alice!“ sagte ich.
    „Esther“, verbesserte sie mich schroff. „Alice
ist ein Goi-Name. Esther, das ist jüdisch, ein richtiger Name. Und ich bin ja
eine richtige schreckliche, gemeine Jüdin. Wäre ich keine Jüdin, wär mir das,
was mir passiert ist, nicht passiert.“
    Weil ich keine Lust auf endlose Diskussionen
hatte, schwieg ich dazu. Aber ich dachte an die Verfolgungen der Nazis.
Unwillkürlich wanderte mein Blick zu dem Schleier, der die Narben verdeckte,
von denen meine Sekretärin gesprochen hatte.
    „Das meine ich nicht damit“, sagte Esther, die
meine Gedanken erriet. Sie hob den dunklen Stoff hoch, und mir bot sich ein
furchtbares Bild: ein zerstörtes Gesicht mit brandroten Narben.
    „Nicht gerade hübsch anzusehen, hm? Sicher, das
hätte damals besser behandelt werden können. Aber wir hatten weder Medikamente
noch die nötigen chirurgischen Instrumente...“
    Ich schwieg. Sie ließ den Schleier wieder
runter.
    „...Das war in einem Lager. Ja, ich wurde
deportiert, mit der ganzen Familie. Man hatte uns denunziert.“ Sie deutete ein
sonderbares Lächeln an. „Mein Bruder und ich sind als einzige zurückgekommen.
Das hier ist in einem Lager passiert, bei einem Brand, aber... ich hasse die
Deutschen nicht.“
    „Sie hätten aber allen Grund dazu“, warf ich
ein. „Haß als Antwort auf Haß, das bringt nichts Gutes ein. Aber schließlich...
Niemand würde es Ihnen verübeln.“
    „Ich hasse sie nicht“, beharrte sie.
    Ein leidenschaftliches Aufblitzen in ihren
Samtaugen straften ihre Worte Lügen.
    „Um so besser“, sagte ich.
    Ich setzte mich wieder hinter meinen
Schreibtisch. Noch verstand ich nicht so recht, wofür ich bei dem Ganzen gut
sein sollte. Vielleicht machte sie ja gerade eine Umfrage über Antisemitismus
und Deutschfreundlichkeit bei dynamischen Detektiven wie mir, zehn Jahre nach
der Landung

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