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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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Jahre alt. Im Grunde behandelte sie jeden, als sei er fünf Jahre alt.
    Lisa ignorierte meinen Einwurf und zerstückelte den Apfel in viele, fast exakt gleich große Würfel. Ich war mir sicher, dass sie es fertigbrachte, jeden Morgen die gleiche Anzahl Würfel zu produzieren.
    »Eventuell müsst ihr euren Kinobesuch verschieben, du und dein Vater«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Dein Vater und ich, wir haben etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«
    »Wenn es um die Kur geht«, nahm ich vorweg, »vergisses! Ich gehe da nicht hin. Ich mache das nicht.«
    Sie mischte die Apfelstücke unter das Müsli, kippte etwas Joghurt darüber und garnierte das Ganze mit einem Schuss trübem Biohonig. Dann kam sie mit der Schale zurück an den Küchentisch und stellte sie vor mir ab, bevor sie sich zu mir setzte.
    »Über die Kur müssen wir auch noch mal sprechen.«
    Ich nahm den großen Löffel, der vor mir auf dem Tisch lag, und begann, lustlos in der Schale herumzurühren. Ich konnte das gesunde Zeug nicht mehr sehen, aber sie ließ mich nicht zur Schule, wenn ich nicht wenigstens ein paar Löffel davon gegessen hatte.
    »Da ist doch was für alte Knacker und Scheintote! Ich geh da nicht hin!«
    »Du weißt, dass das die letzte Möglichkeit ist, deine Werte vor der OP zu verbessern.«
    »Ich werde die OP nicht machen, das habe ich doch schon hundertmal gesagt«, antwortete ich gereizt. Ich konnte einfach nicht begreifen, was an diesem deutlichen Nein nicht zu verstehen war. Seit Monaten diskutierten wir über diese dämliche Kur, die auf die Herz- OP vorbereiten sollte, die nach Lisas Meinung unumgänglich war. Dabei hatte Dr. Lund meine Chancen, danach völlig beschwerdefrei zu sein, mit 30/70 eingeschätzt. Dass eines ihrer »Projekte« mal scheiterte, das konnte meine Mutter einfach nicht akzeptieren.
    »Wir müssen die OP aber machen.«
    » Wir ? Ich! Und ich muss gar nichts.«
    »Aber du könntest …«
    »… abnippeln, ich weiß. Das kann ich bei der OP aber auch.«
    »Bitte rede nicht so«, sagte Lisa gereizt und hielt sich die Stirn. »Ich verstehe einfach nicht, wie man nur so stur sein kann. Immerhin geht es um deine Gesundheit und die geht vor!«
    »Die geht immer vor«, murmelte ich in meine Müslischale und verdrehte die Augen. »Ich muss los.«
    »Hast du deine Medi…«
    »Ja«, unterbrach ich meine Mutter, »habe ich.«
    »Gut. Dann wünsche ich dir einen schönen Tag!«
    *
    Im Klassenzimmer herrschte wie vor jeder Stunde lautes Gewusel. Auch ein paar Leute aus den Nachbarklassen waren noch im Raum und unterhielten sich. Ich versuchte, immer erst in der letzten Minute vor Unterrichtsbeginn zu kommen, damit es nicht so auffiel, dass ich oft die Einzige war, mit der niemand sprach. Heute schaffte ich es sogar fast auf die Sekunde zum Gong. Ich hatte lange für dieses genaue Timing üben müssen. Früher war ich oft für die letzten Minuten vorm Klingeln in den Waschräumen verschwunden, denn morgens auf den allerletzten Drücker loszugehen und damit ein Zuspätkommen zu riskieren und erst recht alle Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen – das wagte ich nicht. Anfangs wusch ich mir einfach die Hände oder tat so, als ob ich meine Frisur überprüfen wollte. Was nur bedingt Sinn machte: Bei meinen glatten und ziemlich farblosen Haaren in Mischlingshund-Hellbraun, die einfach bis knapp über die Schulter herunterhingen, gab es nicht viel zu retten. Der Einsatz von Haarspray hatte den Gesamtzustand eher verschlechtert, denn dann verklebten die wenigen Haare zu noch weniger Strähnen auf meinem ohnehin viel zu großen Kopf und ich erntete mitleidige Blicke von den Zehntklässlerinnen neben mir, die morgens aufgeregt lachend ihren Lipgloss auffrischten. Wahlweise tat ich so, als ob ich mein Make-up kontrollierte. Im Sommer benutzte ich eine getönte Creme, um meine Sommersprossen zu überdecken, die zu meinem Ärger schon beim kleinsten Sonnenkontakt förmlich explodierten. Paps nannte sie immer Sonnensprossen und liebte sie im Gegensatz zu mir sehr. Aber auch für die Kontrolle meiner Haut brauchte ich nicht mehr als einen Blick in den Spiegel, um festzustellen, dass sie nie diese elfenbeinartige Glätte erreichen würde, die die meisten anderen Mädchen vorzuweisen hatten.
    Also hatte ich mir angewöhnt, mich einfach in einer der Toilettenkabinen auf den Klodeckel zu setzen, die Beine an meinen Körper zu ziehen und zu warten, bis das Stimmengewusel weniger wurde. Im Laufe der Zeit hatte ich mich zu einer Art

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