Stolperherz
ich meine Haare wieder zu einem Dutt zusammen und schob ihn unter die Kappe.
»Was hast du vorhin über den Auftritt von Steve Harris erzählt?«, fragte ich, und versuchte, mir keine Hektik anmerken zu lassen.
»Du meinst, dass er nur heute Nacht in Berlin ist, morgen das Konzert spielt und direkt danach wieder abreist?«
Ich nickte.
»Vergisses, Red. Den Traum kann ich begraben. Ich krieg meinen offiziellen Führerschein erst nach den Ferien und keiner von den anderen will mich fahren. Sie wollen lieber Party machen und sich ausruhen.«
»Okay«, sagte ich und dachte währenddessen angestrengt nach, denn ich durfte keine Sekunde mehr verlieren. »Was ist, wenn ich sage: Lass uns heute Nacht nach Berlin fahren. Ich habe genug Geld für zwei Zugtickets und …«
»Warum bist du plötzlich so heiß auf Steve Harris?«, fragte Greg sichtlich irritiert, »du weißt doch noch nicht mal, wer er ist, oder?«
»Klar weiß ich das«, log ich. »Er ist … er ist …« Was konnte Greg so sehr beeindrucken, dass er mitten in der Nacht in eine andere Stadt fahren wollte?
»Er ist … ein berühmter Bassist. Dein Vorbild, würde ich sagen.«
»Steve Harris ist einer der berühmtesten Bassisten der Welt«, antwortete Greg. »Ich weiß nicht, ob man das so genau sagen kann, mit dem Vorbild meine ich, also, Vorbilder zu haben ist nicht unbedingt meine Sache. Aber wenn du es so willst, ja, irgendwie ist er wohl mein Vorbild. Seine Solos sind weltbekannt und …«
»Fahren wir?«, drängelte ich. Jede Sekunde, die ich verlor, brachte mich schneller zurück in mein altes Leben.
»Jetzt?«
»Jetzt.«
»Aber die anderen …«
»Die anderen jetzt in dem Gewusel zu finden würde ewig dauern. Ich schreibe Michelle eine SMS .«
»Aber was ist mit unseren Sachen? Und wo schlafen wir?«
»Bleiben hier und im Zug«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Greg lächelte. »Okay, Red. Ich muss sagen, du haust mich immer wieder aufs Neue um. Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich dich kenne, überraschst du mich.«
»Hm«, flüsterte ich leise, »ich mich auch.«
Es war nicht schwer, herauszufinden, dass es neben dem Aufzug noch eine Treppe gab, die sich kreisförmig wie ein Schneckengehäuse durch das Innere des Gebäudes schlängelte. Die Wendeltreppe war eng und furchtbar lang – meine Mutter wusste, dass ich die Treppe vermeiden würde, wenn ich die Wahl hätte, weil meine Fitness schlicht und einfach zu schlecht war. Sie würde den Lift kontrollieren und bewachen lassen, während sie in den Räumen nach mir suchte.
Ich hatte im Smartphone nachgesehen, dass der nächste Zug in einer halben Stunde kommen würde, und so, wie ich die Strecke abschätzte, würden wir es ganz knapp schaffen. Als mein Blick von der Wendeltreppe durch das Treppenhaus glitt und ich sah, wie lang der Weg nach unten war, wurde mir schlagartig anders. Aber es gab kein Zurück mehr und wenn ich Lisa und ihrer Suchtruppe nicht in die Arme laufen wollte, musste ich mich beeilen.
»Komm jetzt«, sagte ich zu Greg und wunderte mich über meinen strengen Ton, »wir müssen uns beeilen.«
»Mannometer«, antwortete er, »wenn du dir was in den Kopf gesetzt hast, hält dich wirklich nichts mehr auf, was?«
Das werden wir wohl noch sehen, schoss es mir durch den Kopf, während wir die ersten Stufen nach unten nahmen. Meine Füße flogen nahezu über die Treppenstufen und es kam mir vor, als würden sie sie kaum berühren. Das letzte Mal, dass ich mehr als drei Treppenstufen gelaufen war, musste Jahre her sein. Ich versuchte meinen Atem zu kontrollieren, so gut es ging, und nicht zu viel Luft zu verschwenden, denn der Sauerstoff, der viel zu langsam durch mein Herz gepumpt wurde, war begrenzt, das wusste ich. Du schaffst es, redete ich in Gedanken mit mir selbst, immerhin geht es runter und nicht rauf, du schaffst es, und du kippst nicht um, du brauchst keine Pause, du schaffst es, hier unbemerkt herauszukommen.
Während ich die Stufen hinunterhastete, Greg hinter mir, merkte ich, wie ein Gefühl von Freiheit durch mich hindurchströmte. Ich sehnte mich nach Selbstbestimmung und wollte endlich die Grenzen durchbrechen, die mich so lange eingeengt hatten. Ich wusste, dass ich nicht ewig vor meiner Mutter weglaufen konnte, oder vor meinem alten Leben. Aber ich wusste genauso gut, dass nichts mehr so sein würde wie früher, auch, wenn ich zurückging. Ich hatte die Eigenständigkeit in mir entdeckt – und dieses Gefühl konnte mir keiner mehr
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